Liebeslänglich: Kriminalroman (German Edition)
zu lernen. Plante eine Karriere als Rapper.
Was Bildung und Intelligenz betraf, hegte Marion Klosa keinerlei Illusionen über ihre Klientel. Bei den meisten zeugten schon ihre Taten von ihren Defiziten: in Panik geratene Bankräuber, besoffene Schläger, eifersüchtige Machos und junge Kerle, die ihre Schwestern ehrenhalber abgestochen hatten. Manche Häftlinge holten im Knast immerhin ihren Hauptschulabschluß nach oder absolvierten eine Berufsausbildung. Einigen half das, danach ein straffreies Leben zu führen, vielen nicht.
Den charismatischen, intelligenten Strafgefangenen gab es natürlich auch. Der saß in der Regel allerdings nicht hier, in der normalen Strafhaft, sondern in der Sozialtherapeutischen Abteilung. Es war absurd, aber die Gefangenen, die sympathisch wirkten und umgänglich waren, kamen oft aus den dunkelsten Ecken: Sexualmörder, Vergewaltiger, Kinderschänder.
Nicht nur Marion selbst, sondern ein jeder vom Personal und auch die meisten Häftlinge waren froh, daß Kusak in die Einweisungsabteilung verlegt worden war. Voraussichtlich zum Jahresanfang würde man ihn in die nagelneue Haftanstalt Sehnde überstellen, die im Dezember öffnete. Bloß weg mit dem Kerl! So lange Lukas Feller unter den Häftlingen ihrer Station das Sagen hatte, lief alles einigermaßen gerade. Feller war klug und kultiviert. Dennoch – wenn Marion Klosa ihn beobachtete oder mit ihm redete, hatte sie immer das Gefühl, daß hinter seiner aufsässig-charmanten Fassade etwas Dunkles, Abgrundböses lauerte.
Auf der anderen Seite der schweren Gittertür zur Station erschien die dicke Erika. Sie hielt einen gepolsterten DIN-A4-Umschlag in der Hand. Man sah, daß der Umschlag auf einer Seite geöffnet worden war.
»Gibt’s was Besonderes?« Das war anzunehmen, wenn sich Erika persönlich bis ins dritte Stockwerk bemühte.
»Kann man so sagen«, schnaufte sie und füllte das Stationsbüro mit ihrem Geruch nach Schweiß und einem grellen Deo. »Einen etwas sonderbaren Liebesbeweis.«
Vor Marion Klosas innerem Auge erschienen Bilder von getragenen Dessous und bizarre Aktfotos. Manchmal war sie nahe daran, am weiblichen Teil der Menschheit zu verzweifeln: Die Straftäter konnten noch so tumb und unattraktiv sein, fast jeder von ihnen verfügte über mindestens eine willige Adjutantin. Je krimineller, desto anziehender schienen Männer auf eine gewisse Sorte von Frauen zu wirken. Mörder standen ganz oben auf der Beliebtheitsskala. Ihre ältere Kollegin wußte von einem fünffachen Mörder im Hochsicherheitsgefängnis Celle, der die doppelte Anzahl weiblicher Groupies hatte. Dabei war der Kerl ein unscheinbares Männchen, das kaum einen korrekten Satz herausbrachte.
»Für wen?«
»Lukas Feller.«
Irgendwie hatte Marion es geahnt.
Erika hielt den braunen Umschlag mit der Öffnung nach unten über den Schreibtisch und sagte, während sie den Inhalt herausschüttelte: »Ich meine, es ist ja nichts, was ausdrücklich auf der Verbotsliste steht, aber trotzdem …«
Aus dem Karton glitt ein langer, blonder Zopf. Marion unterdrückte einen Aufschrei. Oben und unten war das Flechtwerk mit je einem roten Haargummi fixiert, am dünneren Ende fand sich zusätzlich eine Schleife aus weißem Geschenkband. Erika schüttelte den Umschlag noch einmal, und ein Foto flatterte auf den Schreibtisch. Marion nahm es vorsichtig in die Hand. Eine junge Frau mit raspelkurzem Haarschnitt. Auf der Rückseite des Fotos stand in einer runden, pinkfarbenen Schrift: Liebster Lukas, hier ist das Geschenk, das Du haben wolltest. In Liebe, Claudine.
»Da scheint ihm jemand buchstäblich mit Haut und Haar verfallen zu sein«, murmelte Marion.
»Hat dieser Feller das angefordert und genehmigt bekommen?« fragte Erika.
»Bist du verrückt?« entgegnete Marion, um sich gleich darauf zu entschuldigen. »Tut mir leid. Es ist nur … ungewöhnlich.«
»Tja, dann laß ich das mal hier. Quittierst du mir bitte hier unten den Empfang?«
Verehrte Mathilde,
das Telefongespräch mit Ihnen war sehr wohltuend, mehr als Sie erahnen können. In meiner gegenwärtigen Situation treffe ich so gut wie nie auf Menschen, mit denen man sich austauschen möchte. Daß ich Ihnen begegnet bin, begreife ich als Glücksfall. Auch wenn ich Sie dem Anschein nach kaum kenne, sind Sie für mich keine völlig Fremde, sondern mir ist, als würden Sie eine Erinnerung in mir wachrufen, als hätte ich Sie immer schon gekannt.
Ich will offen sein: Es ist mein brennender Wunsch, Sie
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