Liebeslänglich: Kriminalroman (German Edition)
zehn Euro zwanzig am Tag. Davon werden vier Siebtel zurückgelegt für die Zeit nach der Haft. Für einen Knacki sind Sie ein ganz respektabler Fang. Angenommen, er kommt in sieben, acht Jahren raus – was ja nicht automatisch geschieht, wie Sie vermutlich wissen – dann werden Sie beide schon recht lange verheiratet sein. Lange genug jedenfalls, daß Sie bei einer Scheidung die Hälfte Ihres Vermögens abtreten müssen.«
Was phantasierte diese Frau da? Ein Häftling als Heiratsschwindler? Wie lächerlich. Gut, vielleicht sehnte er sich tatsächlich nach Sicherheit, sowohl emotional als auch finanziell. Das taten die meisten Menschen. War das verwerflich?
Die Rothaarige knetete ihre schmalen Finger, deren Nagelhäute in Fetzen hingen. Mathilde unterdrückte ihren Unmut über die Einmischung in ihre Privatsphäre. Sie nutzte lieber die Gelegenheit, sich mit jemandem, der Lukas Feller kannte, unterhalten zu können. »Wissen Sie etwas über die beiden anderen Frauen, Ann-Marie Pogge und Johanna Gissel, die ermordet wurden beziehungsweise verschwanden?« fragte Mathilde.
»Ja.«
»Hat er etwas damit zu tun?«
»Darüber darf ich nicht sprechen.«
»Ich verstehe.«
»Wenn Sie Lukas Feller von diesem Gespräch erzählen, gefährden Sie mein Leben«, behauptete die Frau, und Mathilde dachte: Diese Psychologen haben doch tatsächlich alle selbst einen Vogel.
»Ich denke, das ist Ihr Job«, entgegnete sie.
»Das ist ihm doch egal.«
»Ich bitte Sie. Was soll er Ihnen antun? Er sitzt im Gefängnis.«
»Ich auch. Und Sie haben keine Ahnung, wozu er fähig ist, selbst vom Gefängnis aus. Er hat es noch nie geduldet, daß jemand seine Kreise stört.«
Mathilde mußte an den toten Felix Roth denken. Wenn Lukas Feller wirklich so gefährlich war, warum riskierte diese Frau dann ihre Sicherheit, um sie, eine Fremde, zu warnen? Aus Menschenfreundlichkeit? Pflichtgefühl? Schwer zu glauben. »Ich werde ihm nichts von unserem Gespräch sagen«, versprach sie.
»Hat er Ihnen von seinem Bruder erzählt?« fragte die Psychologin unvermittelt.
»Nein. Ich habe gelesen, daß er bei einem Unglück ums Leben kam.«
»Er hat ihn auf dem Gewissen – wenn er eines hätte.«
»Wie meinen Sie das?«
»Er ließ ihn absichtlich an einer Stelle spielen, wo das Eis zu dünn war. Und er hat nichts zu seiner Rettung unternommen.«
»Hat er mit Ihnen darüber gesprochen?« Mathilde dachte an die Schilderung des Treppensturzes seines Vaters. Benutzte Lukas die beiden Unfälle, um sich in eine Aura des Verbrechens zu hüllen, weshalb auch immer?
»Dann dürfte ich es Ihnen nicht erzählen«, sagte sie. »Nein, ich habe das aus anderer Quelle. Zeugen sahen, wie er am Ufer stand und auf eine Stelle in der Nähe des Zulaufs schaute. Als man ihn fragte, was los sei, antwortete er seelenruhig, sein Bruder sei gerade ersoffen. Er sagte wirklich ›ersoffen‹.«
Mathilde schluckte.
»Später meinte er zu einer seiner Lehrerinnen, es sei gut, daß sein Bruder tot ist. Seine Mutter hätte sonst nur sinnlos Zeit und Geld an ihn verschwendet. Sein Bruder war behindert. Down-Syndrom.«
»Ist es nicht häufig so, daß sich Geschwister behinderter Kinder vernachlässigt fühlen, vielleicht sogar zu Recht, und das Geschwisterkind deswegen hassen?«
»Schon. Aber sie bringen es normalerweise nicht um. Zumindest gelingt es den wenigsten«, antwortete Treeske.
»Frau Tiffin, ich bin es gewohnt mit Beweisen zu arbeiten. Fest steht doch nur, daß er nicht richtig aufgepaßt und sich hinterher nicht erwartungsgemäß traurig über den Tod seines Bruders geäußert hat. Was will man von einem Neunjährigen erwarten, der noch keine Vorstellung vom Tod hat? Und warum hat die Mutter nicht auf ihr Kind geachtet, wo war die denn?«
»Das weiß ich nicht. Ich habe das nur erwähnt, damit Sie sich ein paar Gedanken über seinen Charakter machen.«
»Aber er war erst ein Kind.«
»Es gibt auch böse Kinder. Kinder sind ja nichts anderes als Erwachsene in der Warteschleife.«
»Zweifellos«, räumte Mathilde ein.
»Erwachsene können ihr Wesen nur besser verbergen«, ergänzte die Psychologin.
So etwas Ähnliches hatte sie doch neulich schon gehört, von diesem Jens, Leonas Freund. Auch so ein Psychologe.
»Der Hut stand Ihnen übrigens ausgezeichnet«, sagte Mathilde.
»Welcher Hut?« fragte Treeske verwirrt.
»Den Sie bei der Trauerfeier seiner Mutter getragen haben.«
Ein verunsichertes Lächeln glitt über Treeskes Gesicht. »Ich wollte
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