Liebeslänglich: Kriminalroman (German Edition)
keinen Zweifel: Er war es. Sein Gang, seine Haltung, dasselbe Kapuzenshirt, das er am ersten Abend, an dem sie ihn vor ihrem Haus entdeckt hatte, getragen hatte. Sein Blick unter den buschigen Augenbrauen streifte sie, als er an ihnen vorbei zur Pforte ging. War er ein wenig erschrocken, oder bildete sie sich das nur ein? Sollte sie ihn ansprechen? Zu spät, er verschwand gerade im Inneren des Pförtnerhäuschens.
Ein Rippenstoß von Leona holte Mathilde aus ihren Gedanken zurück.
»He, träumst du?«
»Was ist?«
»Wie geht es jetzt weiter?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Mathilde.
»Bitte, Mathilde, versteh das doch. Es gibt Frauen, die einem Häftling erzählen und schreiben, wie einsam sie seien, dabei haben sie Mann und Familie zu Hause, und der arme Trottel ist nur ein Ventil für ihre unerfüllten romantischen Bedürfnisse.«
»Für so eine hast du mich also gehalten?«
»Nein.«
»Aber du hast mir nicht vertraut?«
»Ich kannte dich doch kaum. Ich sitze hier fest und bin darauf angewiesen, alles zu glauben, was man mir erzählt.«
»Und? Was hat dir dein Spitzel berichtet? Daß es sich bei mir lohnt?« Sie mußte unweigerlich an die Worte der Psychologin im Café denken.
Lukas seufzte schwer.
»Wer ist der Kerl?«
»Snick. Er hat gelegentlich Ausgang. Er sitzt auf meiner Station ein wegen Scheckbetrugs. Ein netter Kerl, er kommt bald raus.«
»Dann kann er mich ja noch besser beschatten«, zischte Mathilde.
Zu ihrer Überraschung lachte Lukas leise.
»Was ist daran so lustig?«
»Kann es sein, daß wir gerade unseren ersten Ehekrach haben? Einen Tag nach der Hochzeit?«
»Ja, durchaus!«
»Ich verstehe dich ja. Es tut mir leid, wenn ich dich erschreckt und gekränkt habe. Ich habe das veranlaßt, weil es mir ernst mit dir ist. Ich habe so etwas nie vorher gemacht, es war mir egal, was die anderen mir erzählt haben. Aber du warst von Anfang an etwas Besonderes. Ich hätte selbst nicht gedacht, daß ich einmal so tief sinke. Im normalen Leben hätte ich dir bestimmt nicht nachspioniert. Du kannst dir nicht vorstellen, wie hilflos man sich hier drin fühlt. Dieser Knast verändert einen. Bitte verzeih mir. Ich liebe dich.«
Mathilde schwieg.
»Wann fliegst du?« fragte er.
»Morgen früh.«
»Genieß die Zeit. Schließlich ist es deine Hochzeitsreise.«
»Ich werde dir schreiben.«
»Ja, mach das.«
»Ich liebe dich auch«, rief Mathilde, aber er hatte bereits aufgelegt.
Dann stand sie im Schlafzimmer und überlegte, welche Hüte sie mitnehmen sollte.
Sie schrieb ihm fast jeden Tag, manchmal lange Briefe, manchmal nur wenige Zeilen:
Du bist wie ein Buch voller Geheimnisse, ich möchte Dich aufblättern, Seite für Seite.
Sie selbst bekam nur einen Brief, und auch den erst nach über einer Woche. Das sind nun also die Fortschritte, die uns die EU gebracht hat, dachte Mathilde verärgert. Hoffentlich brauchten ihre Briefe nicht ebenso lange, bis sie ihn erreichten. Sie hatte ihr Handy immer bei sich, aber er rief nicht an. Vielleicht war er doch gekränkt, weil sie nach Alderney gereist war. Dabei hatte er selbst ihr dazu geraten: »Du sollst so leben wie sonst auch. Es reicht schon, daß einer von uns beiden eingesperrt ist.«
Dafür meldete sich am dritten Tag ihres Inselaufenthalts Franz Sarstedt. Mathilde und er einigten sich auf achtzehn Monatsgehälter Abfindung, dafür sollte sie bis zum Schuljahresende bleiben. Sie verkniff sich die Frage, ob man nicht befürchte, sie werde die zarten Kinderseelen in der Zeit von April bis Juli ins Verderben stürzen.
Mathilde wurde immer unruhiger. Was würde Lukas denken, wenn er ebensolange keinen Brief von ihr empfing?
Wenn sie im Restaurant oder am Strand verliebte Paare sah, versetzte ihr das einen Stich. Das war neu. Ebenso die Intensität, mit der sie ihn in manchen Stunden vermißte. Insbesondere in jenen, die sie zwischen den mächtigen, mit filigranen Schnitzereien verzierten Bettladen aus dunklem Holz verbrachte. Da überschritt ihr Verlangen zuweilen die Grenze des Erträglichen.
Zu Hause war das alles einfacher zu erdulden, fand Mathilde. Oder hatte es etwas damit zu tun, daß er jetzt ihr Mann war? Mein Mann. Ein Terminus, an den sie sich nur schwer gewöhnte. Allerdings hatte sie ihn noch nie öffentlich benutzt. Sie war froh, als es Zeit wurde für die Rückreise.
Am späten Nachmittag des 2. April hielt das Taxi vor ihrer Haustür. Der Fahrer trug den Koffer nach oben. Mathilde machte sich sofort ans Ausräumen,
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