Liebeslänglich: Kriminalroman (German Edition)
rötliche Haare. Gesicht und Hals waren hager, die Haut wie Pergament. Sie mußte um die Vierzig sein, sah aber aus wie ungesunde sechzig. »Ich wollte gerade einen kleinen Spaziergang machen«, sagte er. »Wollen Sie mitkommen und mir dabei erzählen, worum es geht?«
Als Anja Koch fertig war mit dem, was sie zu sagen hatte, waren sie und der Anwalt auf dem Spitzwegweg bis zu dem Abschnitt gekommen, der Steuerndieb hieß. Nössel wußte zwar, daß die Eilenriede größer war als der Hyde Park und sogar der Central Park, aber erst kürzlich hatte Nössel von einem Mandanten erfahren, was es mit dem Steuerndieb auf sich hatte.
Die Sonne blinzelte hinter einer Wolke hervor. Frau Koch war außer Atem, und sie setzten sich auf eine Bank.
»Bronchialkarzinom«, keuchte sie und deutete auf ihren Kopf. »Perücke.«
»Verzeihen Sie, warum haben Sie nichts gesagt, wir hätten doch in der Kanzlei …« Die Situation war Nössel peinlich.
Sie winkte ab. »Geht gleich wieder.«
Um die Zeit, die sie zum Verschnaufen brauchte, nicht schweigend verbringen zu müssen, fragte Nössel: »Wissen Sie eigentlich, woher der Steuerndieb seinen Namen hat?«
Wie erwartet schüttelte sie den Kopf.
»Der Name bezeichnete ab dem vierzehnten Jahrhundert eine Landwehranlage, so etwas wie den Döhrener Turm und den Pferdeturm. Mit solchen Anlagen schützte sich die Stadt Hannover weit vor ihren eigentlichen Mauern gegen Angriffe. Das mittelniederdeutsche Wort ›sturen‹ heißt so viel wie ›wehren‹, ›hemmen‹ oder ›abwenden‹. Ein ›deip‹ oder ›diep‹ bezeichnet einen wassergefüllten Graben, der zu einer solchen Landwehranlage gehörte. Als ab dem siebzehnten Jahrhundert in der Eilenriede die Holzdiebstähle enorm zunahmen, bürgerte sich der Name ›Steuer den Dieb‹, also ›Wehre den Dieb‹ ein, und mit dieser kleinen sprachlichen Bedeutungsveränderung erhielt der Ort eine aktuelle Plausibilität.«
»Nett von Ihnen, daß Sie mich nicht dumm sterben lassen.«
Ihre Stimme klang wieder kräftiger, und der Anwalt kam zur Sache. »Darf ich fragen, warum Sie das alles ausgerechnet jetzt zu Protokoll geben wollen? Nach über acht Jahren?«
»Ich möchte reinen Tisch machen. Ich habe nur noch sechs Monate – ungefähr.«
»Das tut mir leid«, sagte Nössel, dessen Mitgefühl sich in Grenzen hielt.
»Wird man mich einsperren?«
»Ich glaube kaum, daß Sie haftfähig sein werden.«
»Wie geht es jetzt weiter?«
»Ich werde die Staatsanwaltschaft informieren und einen Richter auftreiben, der Sie vernimmt. Damit hat Ihre Aussage nämlich auch dann vor Gericht Gültigkeit, wenn Sie bei einem neuen Prozeß selbst nicht anwesend sein sollten. Sind Sie damit einverstanden?«
War das zu direkt? Andererseits sah Nössel keinen Anlaß, ihre Gefühle zu schonen. Leute in ihrer Situation waren sicher dankbar, wenn man sich die Pietät für den Friedhof aufhob.
Sie nickte. »Wann?«
»So bald wie möglich. Ich rufe Sie an. Weiß Ihr Mann Bescheid?«
»Wir leben getrennt.« Sie erhob sich, als hingen Gewichte an ihr.
»Ich rufe Ihnen ein Taxi. Wollen Sie in dem Restaurant da drüben warten?«
»Ja.«
Nössel war froh, daß er den Rückweg alleine antreten konnte. Armes Schwein, dachte er, und meinte damit nicht Anja Koch.
Die Zellentür stand offen, aber Marion Klosa klopfte dennoch deutlich vernehmbar an. Lukas, der auf seinem Bett gelegen hatte, stand auf. Er war allein, Karim probte mit der Knastband den Scheiß-Knast-Rap , den inzwischen sogar Lukas auswendig konnte.
»Post, Herr Feller.«
»Danke.«
Marion Klosa schlitzte den Brief mit der Hand auf, untersuchte den Umschlag und übergab ihn Lukas.
»Von Ihrer Verlobten?«
»Was für ein schönes, altmodisches Wort, nicht wahr?«
»Das stimmt«, erwiderte Marion Klosa.
»Ich würde mir für die Trauung gerne einen Anzug kaufen.«
»Ich leite Ihre Bitte an den Sozialen Dienst weiter. Da ist noch was: Morgen Vormittag um zehn möchte Ihr Anwalt mit Ihnen sprechen.«
»Schön«, sagte Lukas und ließ sich seine Verwunderung nicht anmerken.
»Und um drei Uhr haben Sie einen Termin bei Frau Tiffin vom Psychologischen Dienst.«
»Was will sie denn?«
»Keine Ahnung. Es hat sicher etwas mit der Heirat zu tun.«
»Bestimmt«, antwortete Lukas.
Kaum hatte Marion Klosa die Zelle verlassen, lächelte er still vor sich hin. Treeske. Es war interessant, ihren inneren Kampf zu verfolgen. Diese launische Zerrissenheit zwischen Angst, Haß und Gier. Sie war wie eine
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