Liebeslänglich: Kriminalroman (German Edition)
Franziska zu beeinflussen.
»Deine Mutter hat angedeutet, daß es sie kränkt, daß du dich nicht für deinen Vater interessierst«, berichtete Lukas.
»Also, das ist doch die Höhe!«
Sie erzählte Lukas von Franziskas peinlichem Auftritt im Brautkleid und fügte ärgerlich hinzu: »Da erfährt man nach zweiundvierzig Jahren endlich die Wahrheit und soll in Begeisterungsstürme ausbrechen?«
»Ich mische mich da nicht ein«, sagte Lukas. »Aber davon einmal abgesehen: Bist du nicht neugierig auf den Mann? Immerhin sind das deine Gene.«
»Verbrechergene«, entfuhr es Mathilde, und um den Fauxpas zu überspielen, fügte sie rasch hinzu: »Er hat sich nie für mich interessiert, also interessiert er mich auch nicht.«
Lukas stellte das Bild beiseite und nahm eine Flasche Salice Salentino aus dem neuen Weinregal, das Mathilde noch immer ein Dorn im Auge war. Er öffnete die Flasche und setzte sich auf das Sofa, Mathilde in den Sessel.
»Ich denke öfter an meinen Vater«, gestand Lukas. »Der Anblick, wie er mit gebrochenem Genick auf der Kellertreppe lag, gehört zu meinen schönsten Kindheitserinnerungen.«
»Und was ist mit der Zeit davor?« fragte Mathilde.
»Verdrängt.« Er verzog den Mund zu einem Grinsen.
»War es so schlimm?«
Lukas trank einen großen Schluck Wein.
»Manchmal träume ich von den Nächten im Keller. Es waren endlose Nächte, denn dort unten ist es immer Nacht.« Seine Augen wurden schmal. »Der Scheißkerl hat nämlich extra das kleine Fenster zugemauert. Manchmal dauerte mein ›Arrest‹, wie er es nannte, zwei volle Tage. Und das für irgendwelche lächerlichen Vergehen – weil ich mein Fahrrad nicht weggeräumt oder irgendeine Lampe nicht ausgemacht hatte. Zur Verpflegung stellte er mir eine Schale Katzenfutter auf die oberste Treppe.«
»O Gott«, flüsterte Mathilde entsetzt und griff nach seiner Hand. Sie war, wie immer, warm, aber nicht mehr so rauh wie zu Zeiten seiner Inhaftierung. Sein Händedruck, mit dem er den ihren erwiderte, war so kräftig, daß es schmerzte. Dann ließ er ihre Hand los und sagte: »Ja, ich denke oft an meinen Vater. Ich bekomme immer noch Würgereiz, wenn mir der Geruch von Katzenfutter in die Nase steigt, und beim Klirren einer Gürtelschnalle zucke ich noch heute zusammen.«
»Was hat denn deine Mutter dazu gesagt?«
»Nichts. Die hatte doch selbst Angst vor ihm.«
»Konntest du mit niemandem reden?«
»Nein. Und selbst wenn, ich hätte nicht darüber geredet. Ich dachte ja, das wäre normal.«
Mathilde strich ihm über die Wange, als wäre er noch immer der kleine Junge. Lukas schwang die Beine hoch und legte den Kopf auf die Sofalehne.
»Ich hatte keine Freunde«, fuhr er fort, »woher auch? Schulkameraden mit nach Hause zu bringen, daran war gar nicht zu denken, und ich bin auch nie von anderen eingeladen worden. Ich war ein Einzelgänger. Aber natürlich bekam ich mit der Zeit aus den Gesprächen meiner Klassenkameraden mit, daß deren Väter sie anders behandelten. Auch in materieller Hinsicht: Sie hatten ständig neue Fahrräder und batteriebetriebene Rennautos und fuhren in den Ferien ins Ausland. Irgendwann habe ich gedacht: Mein Leben muß nicht zwangsläufig so verlaufen, wie es bisher verlaufen ist.« Lukas hielt inne und lächelte. »Also nahm ich mein Geschick, wie es so schön heißt, selbst in die Hand.«
»Hattest du keine Angst, daß man es rausfindet?«
»Nein. Niemand kam seinerzeit auf die Idee, daß der Tod meines Vaters kein Unfall gewesen sein könnte, und ich selbst habe mir darüber auch nicht allzu viele Gedanken gemacht.«
»Wie hast du dich gefühlt?« fragte Mathilde und kam sich dabei vor wie ein Psychiater, der einen Patienten vor sich auf der Couch hat. »Es war für mich ein ganz neues Gefühl, ein Gefühl des … Triumphs. Ich hatte damals keine Worte dafür, aber ich ahnte, daß mich meine Tat aus der Masse heraushob. Ich hatte etwas getan, was die wenigsten Menschen zu tun wagten, obwohl es viele gab, die sich den Tod eines anderen wünschten. Zum Beispiel sehnte die ganze Klasse das grausame Ende des Deutschlehrers herbei. Auf dem Schulhof haben sie haßerfüllte Szenarien entworfen.« Lukas stieß ein kurzes, schnaubendes Lachen aus. »Und meine Mutter … Wie sollte sie diesen Mann ertragen haben, ohne sich seinen Tod zu wünschen?«
Mathilde antwortete nicht.
»Keiner von ihnen war in der Lage, etwas zu ändern«, murmelte Lukas und leerte sein Glas in einem Zug.
Mathilde dachte über seine
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