Liebesleben/Mann und Frau/Späte Familie
Rücken gekehrt hatte, mein Vater war schuld, weil er ihr weismachte, sie könne mit ihm glücklich werden, und ich war schuld, weil sie meinetwegen auf die Liebe verzichten mußte und ich ihr nie etwas zurückgegeben hatte, und er war schuld, weil er sich weigerte, zu ihr zurückzukehren, als sie das wollte, und Joséphine war schuld, weil sie ihm bewies, daß man auf Liebe hoffen konnte, ein immer größer werdender Kreis von Schuld, der fast die ganze Welt umfaßte, wie konnte ich mir nur einbilden, es wäre mir möglich, diesem Kreis zu entkommen, wie ein kleines Kind, das versucht, mit Erbsen zu schießen.
Ich trat näher und legte mich neben ihn auf das Bett, denn ich wollte ihn nicht sehen, ich ekelte mich plötzlich vor ihm, all diese Scheibchen Wissen, auf die ich so viele Jahre lang gewartet hatte, kamen mir plötzlich vergiftet vor, ungenießbar, und er stand auf und sagte, verzeih mir, ich hätte das nicht tun dürfen, aber du hast mich immer aufs neue dazu gebracht, daß ich die Beherrschung verloren habe, ich glaube, daß wir nicht mehr zusammensein dürfen, alles zwischen uns ist zu beladen, am Abend, wenn alle weg sind, bringe ich dich nach Hause.
Er zog sich langsam aus und ging ins Badezimmer, und ich hörte die Dusche und dachte an den Schneemann aus der Geschichte, die mir meine Mutter oft vorgelesen hatte, ein geliebter Schneemann, der sich mit Schlamm beschmutzte, und als sie versuchten, ihn von dem Schmutz zu reinigen, taute ihn das Wasser auf, und es blieb nichts von ihm zurück. Immer hatte ich gegen die eiserne Logik dieser Geschichte protestiert, ich hatte gesagt, warum waschen sie ihn denn, und meine Mutter antwortete, weil er sich mit Schlamm beschmutzt hatte, und ich fing an zu schreien, versuchte, das verhängnisvolle Urteil abzuwenden, ich zog es vor, daß er schmutzig war, statt überhaupt nicht mehr zu existieren, und sie sagte, sie wollten ihn sauber haben. Aber das ist unmöglich, hatte ich böse gesagt, sie wollten etwas Unmögliches, wer etwas Unmögliches will, verliert alles.
Ich blickte zur Kommode mit den gefährlichen Pralinenschachteln und dachte an meine Mutter, deren Leben einen Moment lang offen gewesen war und sich dann geschlossen hatte, und ich sah, wie sie sich gegen das Tor warf und flehte, es möge sich öffnen, aber es war zu spät, ein Fehler zieht den anderen nach sich, und am Schluß hat man ein verfehltes Leben. Sie hatte auf ihn verzichtet, um mich und Avschalom auf die Welt zu bringen, und sie haßte uns deshalb so sehr, daß Avschalom sterben mußte und ich es nicht schaffe, mein Leben zu meistern, wenn sie sich für ihn entschieden hätte, wäre ich nicht geboren worden, was für eine wunderbare Möglichkeit, ich wäre wie eine verschlossene Schachtel geblieben, ein Versprechen, das nicht erfüllt wird, und bestimmt hatte sie jedesmal, wenn ich sie nachts weckte oder wenn ich sie enttäuschte, an den Preis gedacht, den sie bezahlt hatte, auch jedesmal, wenn ich meine Hausaufgaben nicht gemacht hatte, und jedesmal, wenn ich frech geworden war, und das alles wegen zwei Hälften eines Bibelverses, die nicht zusammengefügt wurden, sondern wie amputierte Glieder getrennt blieben, und deshalb war auch Joséphine krank geworden, denn die Dankbarkeit, die er ihr entgegengebracht hatte, hatte ihr nicht gereicht, sie wollte Liebe, und seine Liebe war trübe geworden wie ein Teich, der nie Sonne oder Wind ausgesetzt ist. Was hatte er ihr zu geben, und was hatte er mir zu geben, Scherben von altem Zorn, ein stinkendes Gefühl des Sieges, eines Sieges über Schwache, der einer Niederlage gleichkommt, ich habe hier nichts mehr verloren, dachte ich, in der Nacht werde ich die Wohnung verlassen und hingehen, wohin mein Koffer mich führt, er soll mich führen wie ein Blindenhund, denn je mehr mir die Augen geöffnet wurden, um so weniger sah ich.
Ich hörte ihn unter der Dusche singen, er sang mit einer sehr gefühlvollen Stimme von den Flüssen von Babylon, wo wir gesessen und geweint hatten, als wir an Zion dachten, seine Stimme klang traurig, aber jung und frei, und ich dachte, auch wenn ich ihr die Augen aussteche, er bleibt für sie jung, während sie alt geworden ist, er erinnert sie stets aufs neue an die Vergangenheit, und deswegen stirbt ihr Traum nicht, sondern wird nur immer unmöglicher, und ich hörte diese Stimme nach mir rufen, Ja’ara, sagte er, ohne auf eine Antwort zu warten, so sicher war er, daß ich noch nicht weggegangen war, Ja’ara, bring
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