Liebesleben/Mann und Frau/Späte Familie
könnte, denn nie hatte ich so gelassene Sätze bei uns zu Hause gehört, und hier, durch den Rolladen, waren Bruchstücke an mein Ohr gedrungen, die zusammenpaßten wie die beiden Teile des Bibelverses, die sich vereinten, das wird für dich ärger sein als alles Übel, das über dich gekommen ist, von deiner Jugend auf bis hierher.
Aber wie konnte man eine Vergangenheit reparieren, ohne sie zu kennen, man fand sich doch schon schwer genug damit ab, daß man nicht in die Zukunft schauen konnte, was sollte man da mit einer unbekannten Vergangenheit anfangen, und ich nahm den Kamm und stellte mich vor den Spiegel, als sei in ihm die Lösung zu finden, und kämmte mich zum ersten Mal, seit ich hergekommen war, bis meine Haare schön und glänzend aussahen, und dann flocht ich mir einen langen dicken Zopf, wie der Zopf meiner Mutter, den sie im Schrank versteckt hatte, nachlässig in Zeitungspapier gewickelt, als wäre er ein Hering vom Markt, der Zopf, der blitzschnell seinen angestammten Platz an ihrem Kopf verlassen hatte und in die Schrankschublade gewandert war.
In jener Nacht, als die Schatten an der Wand getanzt hatten und die Kerzen in den Fenstern geflackert und meine Eltern aus dem Krankenhaus gekommen waren, ohne meinen kleinen Bruder, hatte ich den Zopf das letzte Mal über ihre Schulter hängen sehen, am Morgen danach stand sie ohne ihn auf, nackt und kahl sah sie aus, so männlich und häßlich auf einmal, und ich fragte sie, Mama, was hast du gemacht, und sie sagte, ich habe einen Entschluß gefaßt, nichts Schönes wird mehr an mich kommen, und ich fragte, wo ist der Zopf, und sie sagte, im Müll, und erst ein paar Monate später, als ich im Schrank nach etwas suchte, stieß ich auf das Zeitungspapier, aus dem glatt und glänzend ihr dicker Zopf glitt, dicker als meiner, länger, und trotzdem gab es eine gewisse Ähnlichkeit, damals hatte ich versucht, ihn an meinen Haaren zu befestigen, mit Bändern und Gummis, aber immer wieder war er mir von der Schulter gerutscht, als hätte er einen eigenen Willen, doch mein Zopf jetzt hing fest, er brachte mich dazu, aufrechter zu gehen, meine Liebe zu ihm zu tragen, als wäre es die Liebe meiner Mutter, und ich stellte mir die junge Frau in den engen Fluren der Universität vor, in Schwarzweiß sah ich das Bild, das blasse Gesicht und den dunklen Zopf, wie sie die beiden jungen Männer traf, einer schwarz und einer weiß, und so, wie sich die beiden Hälften des Bibelverses zusammenfügten, fügten sich ihrer beider Erinnerungen zusammen und wurden zu einem Ereignis, das einige Tage lang gedauert hatte, während des Kriegs, der ihre Jugend zerstört hatte.
Ich kannte diese Geschichte von dem kindlichen Soldaten, sie hatte sie mir ein paarmal erzählt, ohne einen Namen zu erwähnen, von diesem schwer verwundeten Jungen, an dessen Bett sie zehn Tage lang gesessen hatte, aber wenn er es wirklich war, wieso hatte er dann keine einzige Narbe, da er doch so schwer verwundet war, es stimmte, man sah an ihm auch nicht all die Küsse, die er empfangen hatte, aber wieso sah man nichts von seinen schweren Verwundungen, und dann dachte ich, vielleicht ging es um seine Unfruchtbarkeit, vielleicht war das die Invalidität, die er erwähnt hatte. Voller Angst und Mitleid sah ich seinen großen schönen Körper vor mir, samenlos und für immer voller Trauer, und eine heilige Angst packte mich, wie ein Prophet, dem seine Sendung klar wird, ausgerechnet mir war aufgetragen, die Leere in seinem Körper zu füllen, die geliebte glatte braune Haut zu durchdringen und in der Leere zu verschwinden wie in einer alten Höhle und nie wieder die Sonne zu sehen.
Ich wühlte in meinem Koffer und zog ihr Bild heraus, das ich darin versteckt hatte, und ich betrachtete sie im Spiegel, wir sahen uns ziemlich ähnlich mit unseren Zöpfen und den ernsten Gesichtern, und ich sagte zu ihr, warum hast du das gemacht, Mutter, warum hast du ihn nicht getröstet, du hast ihn doch geliebt, plötzlich war mir ihre Liebe klargeworden, durch meinen Zopf, und ich hegte keinen Groll gegen sie, daß sie ihr Leben lang einen anderen Mann geliebt hatte und nicht meinen Vater, im Gegenteil, es war besser, sie hatte jemanden vergeblich geliebt als einen, der nicht wußte, was Liebe ist, und ich überlegte, wie man wohl sein Leben verbringt, wenn man einen anderen Mann liebt und weiß, daß es hoffnungslos ist, nicht wie ich, die hinter ihm herlief und ihm auflauerte, sondern wie sie, ohne etwas zu tun, von
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