Liebesleben/Mann und Frau/Späte Familie
hat, ist er nun gesund oder nicht? Ich versuchte, sie zu beruhigen, er ist nicht wirklich gesund und nicht wirklich krank, und sie schimpfte, warum bringst du ihn dann nicht zu einem Arzt, warum unternimmst du nichts? Und ich entschuldige mich, er will nicht wieder ins Krankenhaus, er möchte sich nicht untersuchen lassen, ich kann ihn nicht mit Gewalt hinschleppen. Manchmal beschimpfe ich mich auch selbst, mach was, gib nicht immer nach, dann stehe ich energisch in der Tür seines Zimmers und sage, Udi, so geht es nicht weiter, du mußt dich untersuchen lassen, man muß herausbekommen, was dir fehlt, du darfst dich nicht einfach dieser Krankheit ergeben, und er wirft mir dann einen abweisenden Blick zu, ich lasse mich in keine psychiatrische Abteilung einweisen, und wenn ich dich störe, dann geh doch. Ich drohe mit schwacher Stimme, ich werde wirklich gehen, merk dir das, wenn du dich nicht um dich kümmerst, werde ich einfach gehen, glaubst du etwa, du könntest dein ganzes Leben im Bett verbringen und ich würde dich wie eine Krankenschwester pflegen? Dann wehrt er sich sofort, ich brauche deine Pflege nicht, man könnte meinen, du tust wer weiß was für mich, und ich schaue ihn hilflos an, ich bin ja auch nicht begeistert davon, ihn wieder ins Krankenhaus zu bringen, trotzdem muß man eine Lösung finden, es ist doch unmöglich, daß es keine Medizin für diese Ansammlung von Symptomen gibt, und immer wieder kommt mir der deprimierende Name der Krankheit Konversionsneurose in den Sinn, so wie man sich an den Namen einer anderen Frau erinnert, einer verführerischen und bedrohlichen Rivalin.
Sogar meine Mutter, die sich normalerweise in nichts einmischt, hat angefangen, mich zu bedrängen, was ist los mit ihm, man muß etwas unternehmen, und an einem Abend tauchte sie mit ihrer Bekannten bei uns auf, einer Psychiaterin, wir kommen nur auf einen Sprung vorbei, verkündete sie mit bedeutungsschwangerer Stimme, wir wollten nur mal schauen, was es Neues gibt, und Udi war mit einem Satz aus dem Bett, er saß mit uns im Salon und verteilte sein Lächeln, er gab sich solche Mühe, zu beweisen, daß nichts Besonderes los war, bis die Ärztin mich mißtrauisch musterte, als wäre ich die Kranke, und erst an der Tür flüsterte sie mir zu, er sieht ein bißchen heruntergekommen aus, das ist alles, und ich fühlte mich ermutigt und versank sofort in angenehmen Vorstellungen von seiner baldigen Genesung, doch er war schon zurückgegangen ins Bett, erschöpft von der Anstrengung, und eine Woche lang weigerte er sich zu sprechen, er weigerte sich zu essen, und morgens fand ich den Küchenschrank offen vor und entdeckte, daß der Brotlaib kleiner geworden war, und so suche ich die Spuren seines Lebens, wie man die Spuren einer Maus sucht.
Manchmal frage ich ihn mit der Stimme einer Kindergärtnerin, was hast du denn den ganzen Tag so getan, und er antwortet, nichts, angriffslustig, als gäbe es auf der ganzen Welt nichts für ihn zu tun. Seit dem Verschwinden seiner geliebten Bibel weigert er sich, ein Buch in die Hand zu nehmen, mir hat es schon am Tag danach leid getan, ich rief das Hotel an und flehte, man möge das Buch für mich suchen und es mir bitte schicken, aber vergeblich, und nun betrachtete ich mit schlechtem Gewissen den leeren Nachttisch neben seinem Bett, wie konnte so etwas geklaut worden sein, wer hat sich für eine alte, abgenutzte Bibel interessiert, mit Sandkörnern zwischen den Blättern. Die neue Bibel, die ich ihm kaufte, schob er sofort in die Schublade, ohne sie auch nur aufzuschlagen, dasselbe tut er auch mit den anderen Büchern, die ich ihm ab und zu mitbringe, er wirft keinen Blick hinein, die ganze Zeit liegt er mit offenen Augen da, auch nachts, seine Leselampe erwärmt die Luft um ihn herum, brennt wie die kleinen Lichter auf den Grabstätten in der Stadt der Toten, Lichter, deren Helligkeit die Dunkelheit nur noch anschaulicher macht.
Jeden Abend, wenn ich Noga ins Bett gebracht habe, klappe ich mir das Sofa im Wohnzimmer auf, breite ein Laken darüber und lege mich schlafen wie eine Besucherin, weit weg vom Schlafzimmer, das zu seinem Krankenzimmer geworden ist, und es gibt in diesem Meer der nächtlichen Einsamkeit eine gewisse Erleichterung, allein zu schlafen, keine Rücksicht auf ihn zu nehmen, nicht darauf zu warten, daß das Licht ausgemacht wird, nur ich selbst, im Wohnzimmer, das sogar nachts glühend heiß ist, ich rutsche mit dem Rücken in die Vertiefung zwischen den beiden
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