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Liebesleben/Mann und Frau/Späte Familie

Liebesleben/Mann und Frau/Späte Familie

Titel: Liebesleben/Mann und Frau/Späte Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zeruya Shalev
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mich zu beruhigen und das Gefühl der Vollkommenheit wiederherzustellen, doch das war unmöglich, es war zerbrochen, ein innerer Widerspruch hatte die ganze Zeit daran genagt, und ich beschloß, daß morgen das letzte Mal sein würde, danach würde ich meine Abschlußarbeit anfangen, und dann fragte ich Joni noch einmal, was er mit Schira gehabt habe, und er sagte, nichts, und ich beharrte darauf und fragte, warum sieht sie dich dann immer so begehrlich an, und er sagte, ich weiß es nicht, da war wirklich nichts, wir waren Freunde, wie Bruder und Schwester. Mein Bauch zog sich plötzlich vor Trauer zusammen, denn auch wir waren so geworden, schien mir, wie Bruder und Schwester, und es war so schwer, das zu durchbrechen, denn nur für einen Moment, unter großer Anstrengung und mit der Erregung, die von einem düsteren alten Mann herrührte, schaffte ich es, mich auch von ihm erregen zu lassen, ich nahm seine Hand und legte sie auf mein Knie, genau da, wo jene braune glatte Hand gelegen hatte, und versuchte, sie unter meinen Rock zu schieben, doch er hörte nicht auf mit diesem nervösen Trommeln, und mein Rock hob und senkte sich, als würden Heuschrecken dort herumhüpfen, und erst als die Suppe kam, hörte er auf, zog seine Hand hervor, nahm den Löffel und machte sich hingegeben ans Essen.
    Die Musik war zu laut für eine Unterhaltung, deshalb aßen wir schweigend, tunkten das Brot in die scharfe Suppe, und ich dachte, daß meine Freude damals, als wir uns kennenlernten, wie ein Geschenk gewesen war, doch sehr bald wurde eine Last daraus, denn das Geschenk war unpassend, und als ich das herausfand, war es schon zu spät für einen Umtausch, und ich wußte, ein anderes würde ich nicht bekommen, nie in meinem Leben. Ich versuchte, ihn zu fragen, was es Neues gab bei seiner Arbeit, und er sagte, sie würden an einem neuen Programm arbeiten, das einen guten Eindruck mache, und es bestehe die Aussicht, daß sie es durchbringen könnten, er arbeitete in der Computerfirma seines Vaters, und dann verlangte er vom Kellner, daß die Musik leiser gestellt würde, weil wir uns kaum verständigen könnten, und der Kellner sagte, in Ordnung, kein Problem, aber die Musik wurde nicht leiser, im Gegenteil, sie schien sogar noch lauter zu werden, und dann bat Joni noch einmal, und der Kellner tat, als sei es das erste Mal, und sagte wieder, in Ordnung, kein Problem, und wieder stellte er sie nicht leiser. Joni seufzte ergeben, er zog es immer vor, Auseinandersetzungen auszuweichen, so lange wie möglich still zu leiden, und ich sagte, komm, gehen wir, aber unsere Demonstration beeindruckte niemanden, sofort stürzten zwei junge Leute von der Seite herbei und setzten sich auf unsere Plätze, und auf dem Rückweg gingen wir Hand in Hand, der Himmel war bewölkt und berührte fast unsere Köpfe, wie die Decke eines Hochzeitbaldachins, der von vier kleinen müden Männern gehalten wird.
    Vielleicht dachte ich deshalb nachts an ihn, als ich nicht einschlafen konnte, an meinen kleinen müden Vater, und ich hatte die dumpfe Erinnerung, daß er einmal groß gewesen war und nachher geschrumpft, als habe man ihn in zwei Teile zerschnitten, die eine Hälfte sei bei uns geblieben, die andere habe er nur für sich behalten, und ich versuchte, ihn mir vor dem Hintergrund der niedrigen Berge in unserer Gegend vorzustellen, dort, wo ich in meinem ersten Leben gewohnt hatte, viel zu niedrige, ehrgeizlose Berge, warum hatte er dort so groß ausgesehen und heute so klein, der Grund war nicht, daß ich damals ein Kind war und nun erwachsen, ich hatte es noch nie geschafft, mein Leben in Kindheit und Erwachsensein aufzuteilen, schließlich war ich jetzt nicht weniger Kind als damals, für mich gab es immer ein erstes Leben und ein zweites, ohne jede Verbindung miteinander, und in jeder Epoche war ich sowohl Kind als auch erwachsene Frau. Und vielleicht war mein Leben nicht nur in zwei Teile geteilt, sondern in drei oder vier, und vermutlich mußte man das tun, um es durchzustehen, das Leben aufteilen, und je länger ich an meinen Vater dachte, um so weniger konnte ich einschlafen, ich fühlte in meinem Inneren ein grenzenloses Mitleid und erinnerte mich an etwas, was ich einmal in der Zeitung gelesen hatte, über eine Studentin, die als Hosteß in irgendeinem Hotel arbeitete, in dem plötzlich ihr Vater als Kunde erschien, und wieder fragte ich mich, wer bedauernswerter war, sie oder er, und ich erinnerte mich, daß Joni gesagt hatte, beide seien zu

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