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Liebesleben/Mann und Frau/Späte Familie

Liebesleben/Mann und Frau/Späte Familie

Titel: Liebesleben/Mann und Frau/Späte Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zeruya Shalev
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sich mit einem feinen Vorwurf in der Stimme an ihn, du hast vielleicht angefangen, gesund zu werden, aber du hast dich nicht verändert, du bist heute morgen aus negativen Gefühlen heraus zu der Tour aufgebrochen, du mußt dich jetzt ändern, sonst wirst du in der Zukunft den Preis dafür bezahlen. Übertreibst du nicht ein bißchen, sagt er grinsend, wer ist denn frei von negativen Gefühlen, und sie reißt die Augen in gespielter Überraschung auf, ich übertreibe? Weißt du, was für einen Einfluß jeder Gedanke hat, den du irgendwann einmal gedacht hast, jedes Wort, das du einmal gesagt hast, jedes Gefühl, alles hat einen Einfluß auf das Wetter, auf Tiere und Pflanzen, auf die Erde und die Luft, nicht nur auf deinen Nächsten, und er schweigt beschämt, mit leicht geöffnetem Mund, seine Finger lassen das Handtuch los, das er um die Hüften geschlungen hat, und ich beobachte gespannt das weiche Tuch, ob es gleich zu Boden fällt, doch dann blicke ich von ihm zu ihr, nur zu ihr, denn schließlich sind wir alle nackt vor ihr.
    Ich habe Zorn in deiner Stimme gehört, Na’ama, ihr Tadel gilt jetzt mir, du hast dich über ihn geärgert, weil er dich bei deiner Tagesarbeit gestört hat, du bist wütend wegen all der Wochen, die er schon hilflos ist, du mußt dich von diesem Zorn reinigen, du mußt Erbarmen in dir wecken, kein Mitleid, denn das ist ein hochmütiges Gefühl, das aus der Angst erwächst, und ich verteidige mich sofort, schaue unbehaglich zu ihm hinüber, ich bin doch bloß so erschrocken, als ich ihn heute morgen dort gesehen habe, es ist nicht einfach, wenn fast jeden Tag etwas schiefläuft.
    Aber du mußt verstehen, daß du keinen Grund hast, zornig auf ihn zu sein, im Gegenteil, du solltest ihm dankbar sein, sagt sie, durch sein Leiden weckt er bei dir Erbarmen und macht dir damit das größte Geschenk, weißt du, in Tibet sagt man, daß der Bettler, der um eine milde Gabe bittet, oder die kranke alte Frau, die Hilfe benötigt, vielleicht nur eine Reinkarnation Buddhas sind und dir in den Weg treten, um dein Erbarmen zu wecken und dir geistigen Wandel zu bringen.
    Ich betrachte ihn zweifelnd, ein knochiger Buddha in einem roten Frotteerock, ein Buddha ohne Erleuchtung, der versucht, meinen Blicken auszuweichen, früher haben wir heimliche Blicke des Einverständnisses getauscht und uns zugelächelt, doch nun sind wir einander fremd, als hätten wir uns nie gesehen, zwei Schüler, die sich zufällig bei der gleichen Nachhilfelehrerin treffen und nur durch deren Anwesenheit verbunden werden.
    Wie weckt man denn Erbarmen, frage ich, und sie antwortet sofort, auf jede Frage hat sie eine Antwort parat, ohne auch nur einen Moment zu zögern, du solltest versuchen, ihn so zu sehen, wie du dich selbst siehst, nicht in seiner Funktion als Ehemann oder Vater, sondern als freien Menschen, nimm ihn ganz wahr, mit seiner Sehnsucht nach Glück und mit seiner Angst vor Leid. Versuche dir jemanden, den du sehr liebst, in dieser Situation vorzustellen, vielleicht deine Tochter, und überlege, was du ihr gegenüber empfinden würdest, und dann nimm dieses Gefühl und übertrage es auf ihn, aber ich höre schon nicht mehr zu, Gott bewahre, ich möchte mir auf gar keinen Fall Noga in solch einer Situation vorstellen, und Sohara sagt beruhigend, du irrst dich, Na’ama, ein solcher Gedanke kann sie nur befreien und ihr helfen, du verstehst noch immer nicht, wie die Krankheit funktioniert, wie gewaltig und wunderbar sie ist, sie segnet jeden, der an ihr Teil hat, den Menschen, der sie hat, denjenigen, durch dessen Hilfe er sie bekommen hat, und auch denjenigen, gegen den sie gerichtet ist.
    Wieder betrachte ich sie erstaunt und mißtrauisch, sie sitzt aufrecht vor uns, reckt den Hals, weil wir beide stehen, ihre eine Hand liegt auf dem Rücken des Babys, ihre Haare bewegen sich im heißen Nachmittagswind, der durch die Balkontür hereindringt, ihre Stimme kommt weich und zitternd aus ihrem Hals, mir ist, als könne ich ihr bis in alle Ewigkeit zuhören. So hatten sicher die besorgten Bewohner Judas den tröstenden und ermutigenden Offenbarungen gelauscht, war es ein Wunder, daß sie den düsteren Propheten zum Schweigen bringen wollten, der ihr Glück mit seinen Drohungen störte, Tochter meines Volkes, hülle dich in Sack und Asche, klage und trauere, denn der Tod dringt durch die Fenster in unsere Schlösser, und mir scheint, als müsse ich es für sie tun, als müsse ich mich mit der Krankheit strafen, und ich

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