Liebesleben/Mann und Frau/Späte Familie
versuche, sie hochzuheben, nur weg von da, sie legt mir die Arme um den Hals, schwach wie die Läufe eines gejagten Rehs, ihr Körper ist heiß und schwer, ich halte sie fest, komme aber kaum vorwärts, jeder einzelne Wirbel meines Rückens scheint unter dem Gewicht zu zerbröckeln, so schwer ist sie, und ich jammere, Udi, schau nur, was passiert ist, hilf mir, ich breche gleich zusammen, ich kann nicht mehr.
Im Korridor stehen Kinder an der Wand und schauen uns schweigend an, machen uns den Weg mit einer beängstigenden Höflichkeit frei, was denken sie, daß Noga tot ist, daß sie nie mehr wiederkommt? Er ist unendlich lang, dieser Korridor, diese Einsamkeit nimmt kein Ende, nur ich und meine kranke Tochter, unser großes Unglück, wir gehen gebückt wie Tiere, das Unglück wischt alles Menschliche weg, früher war es mir wichtig, wie ich aussehe, wie ich mich anhöre, jetzt stöhne ich laut, Rotz und Wasser läuft mir über das Gesicht, nichts interessiert mich, ich will nur das Auto erreichen und den kranken Körper auf den Rücksitz legen, aber ich schaffe es nicht, meine Füße zittern unter unserem gemeinsamen Gewicht, gleich werde ich zusammenbrechen, ein einziger Haufen Gliedmaßen, die ihre Lebenskraft verloren haben, und dann höre ich kurze Schritte, die rasch auf mich zukommen, ein glatzköpfiger Junge kommt angerannt und ruft, warten Sie, ich helfe Ihnen, ich habe noch nicht einmal die Kraft, mich umzudrehen, er ist kein Junge, er ist einfach klein gewachsen, ich erinnere mich, es ist ihr Geschichtslehrer. Er greift nach ihren Beinen, er hält schon den unteren Teil ihres Körpers, er zieht sie, als wäre sie eine Schubkarre, und als ihr Gewicht leichter wird, spüre ich um so stärker den Schmerz in meinem Körper, ich halte ihre Arme fest, folge seinen schnellen Schritten, damit ihr Körper nicht entzweigerissen wird. Als wir am Auto ankommen, bin ich schon fast erstickt vor Anstrengung, er rutscht schnell auf den Rücksitz und zieht sie hinter sich her, und zu meiner Überraschung bleibt er da sitzen, ihre Füße liegen auf seinen Knien, ich lege ihren Kopf auf den Sitz, streichle ihr noch einmal über die Stirn, sie atmet schwer, und sie hat die Augen geschlossen, als habe sie jedes Interesse an dem verloren, was geschieht. Danke, sage ich zu ihm und warte, daß er geht, ich kann seine Gegenwart schlecht ertragen, aber er bleibt sitzen, wie wollen Sie sie zu Hause die Treppe hochtragen, und ich sage noch einmal, danke, ich habe nicht daran gedacht, und unterwegs überlege ich erstaunt, woher weiß er, daß es bei uns eine Treppe gibt, woher weiß er, daß ich niemanden habe, der mir helfen könnte, und er, als fühle er mein Erstaunen, sagt ganz ruhig, Noga hat es mir heute morgen erzählt, was hat sie erzählt, frage ich aggressiv, und er sagt, daß ihr Vater weggegangen ist, und als ich diese Worte aus dem Mund eines völlig Fremden höre, wird mir ihre Gültigkeit klar, als hätte ich sie gerade jetzt im Radio gehört, eine Neuigkeit, die durch meinen Kopf galoppiert, Nogas Vater ist weggegangen.
So hat er sie früher hinaufgetragen, als sie ein Baby war und immer einschlief, wenn wir mit dem Auto wegfuhren, sie legte die Arme um ihn, mit einer Art verschlafenem Stolz, und wir gingen die Treppe hinauf, schweigend, damit sie nicht aufwachte und wir ein bißchen Zeit für uns hätten, er legte sie auf ihr Bett und ich zog ihr die Schuhe aus, dann schlossen wir sofort ihre Tür und machten erst dann Licht in einem der Zimmer an, und wenn wir dann nicht gleich ihr süßes Weinen hörten, atmeten wir erleichtert auf, wir waren wie Zwangsarbeiter, denen man unerwartet eine Pause gestattet hatte, wir schenkten uns ein Glas Wein oder Bier ein und gingen auf den Balkon, oder wir setzten uns eng umschlungen ins Wohnzimmer und sehnten uns insgeheim nach ihr. Doch jetzt wird sie von diesen haarlosen, kurzen Armen hinaufgetragen, er sieht aus, als wiege er nicht mehr als sie, aber ich kann heute nicht wählerisch sein, ich gehe hinter ihnen die Treppe hinauf, um sie aufzufangen, falls sie ihm aus den Armen rutscht, seine Beine schwanken auf den Stufen, aber er hält durch, sein Gesicht ist rot vor Anstrengung. Ich dirigiere ihn rasch zu Nogas Zimmer, dort läßt er seine glühende Last aufs Bett fallen, wischt sich den Schweiß von der Stirn, an seiner Hand glitzert ein Ehering, der funkelnagelneu aussieht, als habe er gerade gestern geheiratet, und ich beuge mich über Noga, wir sind zu Hause, sage ich
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