Liebesleben/Mann und Frau/Späte Familie
barfuß, du weißt, daß es nicht so ist, flüstert sie, und ich frage, was ist nicht so, und sie sagt, nichts ist in Ordnung, und ich sage, zeig mir den Brief, ich schaffe es kaum, meine Erregung zu verbergen, aber sie senkt widerspenstig den Kopf, ich habe ihn weggeworfen. Was hat er geschrieben, frage ich, gieße mir mit zittrigen Händen Kaffee ein, und sie murmelt, ich habe es nicht genau verstanden, daß er woanders gesund werden muß, daß er sein Leben ändern muß, daß er mich liebt, und plötzlich wird mir ihr Vorteil klar, und schrecklicher Neid packt mich, sie liebt er, zwar auf seine eigene, mangelhafte Art, aber er liebt sie, mich nicht, mich liebt er nicht mehr, und sofort platze ich, warum hast du den Brief weggeworfen, wenn du ihn nicht verstanden hast, ich hätte ihn dir erklärt, und sie sagt, ich habe ihn absichtlich weggeworfen, damit ich ihn dir nicht zeigen muß. Aber warum, schreie ich, was hätte es dir ausgemacht, ihn mir zu zeigen? Weil er für mich ist, zischt sie, nicht für dich, mit dem gleichen gekränkten Stolz, der gleichen armseligen Wichtigkeit, wie ich sie gestern abend fühlte, als er sagte, geh nicht weg, ich möchte mit dir reden, und ich dumme Kuh sagte zu ihm, wir können später reden, ich habe nichts verstanden, und auch sie versteht wohl nichts, gibt sich mir gegenüber noch feindseliger, statt daß wir Schicksalsgenossinnen sind, zanken wir uns um das letzte Stück Brot, aber seltsamerweise finde ich es leichter, ihre Feindseligkeit auszuhalten als ihre Liebe, ich sage, iß, es ist schon spät, ich verzichte leichten Herzens auf ein vertrauliches Gespräch mit ihr, und sie kaut mit einem seltsamen Appetit an einem Brötchen, immer wieder gießt sie sich Milch nach, alles, was sie tut, kommt mir heute morgen seltsam vor, aber ich denke nicht weiter darüber nach, ich möchte nur, daß sie geht und ich ein paar Stunden habe, um wieder zu Kräften zu kommen. Er muß woanders gesund werden, wiederholt sie mit Lippen, die weiß sind von der Milch, und das ist doch die Hauptsache, daß er wieder gesund wird, nicht wahr? Natürlich, sage ich und bin ihm fast dankbar für die verschwommenen Formulierungen, und nun macht sie schon die Tür auf, verabschiedet sich kühl von mir, tschüs, Mama, und ich küsse sie auf die Stirn, schließe schnell die Tür hinter ihr zu, drei geräuschvolle Umdrehungen des Schlüssels, sie soll es sich ja nicht anders überlegen, sie soll ihrer Wege gehen und mich allein lassen.
Ich lasse schnell die Rolläden herunter, wische die letzten Lichtspalten weg und werfe mich aufs Bett, ein feuchtes, schwarzes Loch empfängt mich dort, und in seinen Tiefen kann ich ausruhen und meine schmerzenden Glieder ausstrecken, den ganzen Tag will ich hierbleiben, ohne mich um irgend jemanden zu kümmern, alles, was ich will, ist mein Spielplatz, nur hier bin ich sicher, und außerhalb des Spielplatzes ist die tosende, gefährliche Straße, Mama und Papa erlauben mir nicht wegzugehen, wenn niemand auf mich aufpaßt, jetzt paßt niemand auf mich auf, niemand sieht das Ungeheuer, das sein Maul aufsperrt, das meine Handgelenke auf das Bett drückt, meinen Körper unter seinem zerquetscht und mir seinen ekelhaften Atem in den Mund bläst. Was wird mit mir sein, noch nie bin ich allein gewesen, immer war ich mit ihm, gegen ihn, für ihn, unter ihm, über ihm, hinter ihm, immer sah ich mich im Verhältnis zu ihm, und nun, da er das Bild verläßt, fängt alles an zu wackeln, gleich wird das Bild vor meinen Augen zerspringen, und mein ganzes Leben wird nicht ausreichen, die kaputten Scherben zusammenzufügen, es ist wie mit dem Barometer meines Vaters, wie bin ich damals, an meinem Hochzeitstag, auf dem Boden herumgekrochen, unter den Betten, und habe die Quecksilberkügelchen gesucht. Ich hätte die Hochzeit absagen sollen, das war ein Zeichen, ich hätte einen anderen Mann heiraten sollen, einen, der mich nicht mitten im Leben verläßt, zu einer Zeit, da ich schon nicht mehr jung genug bin, um eine neue Familie zu gründen, und noch nicht alt genug zum Sterben.
Ich versuche, mich an andere Männer zu erinnern, aber es gelingt mir nicht, verschwommene Schatten tauchen vor mir auf, ich habe ja nie gewagt, einen anderen wirklich anzuschauen, ich habe immer nur ein Auge aufgemacht, mein ganzes Leben lang, das andere war entzündet vor Haß, zugeklebt mit gelbem Eiter. Was war es, das anzuschauen ich mich so fürchtete, der Glanz der Welt oder ihre Düsternis, ich habe auf
Weitere Kostenlose Bücher