Liebesleben/Mann und Frau/Späte Familie
vollkommen fremde Frau, und wir sind zusammen aufgewachsen, er ist nicht nur mein Mann, er bedeutet meine ganze Familie, meine Erinnerungen, ich habe nichts ohne ihn. Warum hat er mir nicht die Wahrheit gesagt, wochenlang hat er sie vor mir geheimgehalten, was sind die Worte wert, die wir während der ganzen Zeit miteinander gewechselt haben, Millionen von Worten gehen von einer Hand in die andere wie Münzen bei einem zweifelhaften Geschäft, auch wenn man im wichtigsten Augenblick alles verbirgt. Ich hätte es verständnisvoll akzeptiert, ich hätte zu ihm gesagt, es ist nur natürlich, daß zuweilen eine neue Liebe erwacht, sogar mir ist das passiert, all die Jahre habe ich es abgeleugnet, jetzt bin ich bereit, es zuzugeben, aber trotzdem ist es mir doch nicht eingefallen, dich zu verlassen, mir war klar, daß ich auf ihn verzichten mußte, sogar ohne große Schwierigkeiten, von dir erwarte ich gar nicht, daß du verzichtest, du sollst nur hierbleiben, bei uns, und uns nicht im Stich lassen. Vielleicht räumen wir hier ein Zimmer für sie und das Kind frei und leben alle zusammen, erziehen die Kleine gemeinsam, nur damit wir uns nicht trennen müssen, aber sofort komme ich wieder zu mir und denke, was wünschst du dir da, die ganzen Jahre verzichtest du und verzichtest, und jetzt bist du sogar bereit, auf seine Liebe zu verzichten, Hauptsache, er bleibt bei dir, aber weinet nicht über den Toten und grämt euch nicht um ihn; weint aber über den, der fortgezogen ist; denn er wird nicht mehr wiederkommen und sein Vaterland nicht wiedersehen.
Noga schluchzt im Schlaf, und ich richte mich auf, streichle ihr über die Stirn und spüre ihren heißen Atem, ihre Krankheit lastet schwer und schrecklich auf mir, am Morgen werde ich keine Wahl haben, ein weißer Krankenwagen wird vor unserem Haus halten, mit weitgeöffneten Türen, Männer in strahlendweißen Anzügen werden ihren Körper auf eine Trage legen, erst vor wenigen Monaten, zu Beginn des Sommers, habe ich ihn so begleitet, es war eine schreckliche Übung für das, was mich morgen früh erwartet, aber heute nacht gehört sie noch mir, ich verzichte noch nicht auf sie, mit der Kraft meiner Liebe versuche ich, sie gesund zu machen, mit der Kraft seiner Liebe, er muß mir diese Nacht helfen, wenn er heute nacht nicht zurückkommt, kommt er nie mehr zurück, diese Wohnung wird nicht mehr sein Zuhause sein, dieses Mädchen wird nicht mehr seine Tochter sein, mein Körper wird nicht mehr sein Körper sein, da, wo ich ihn liebte, werden häßliche Narben entstehen. Für immer werden wir getrennt sein, wenn er heute nacht nicht zurückkommt, da sie von der Krankheit gequält wird, ich lege meinen Kopf auf ihr Bett, weine in ihre glühendheiße Schulterbeuge, bis zum Morgengrauen wird er mich dreimal verleugnen.
Sie streckt eine verschwitzte Hand nach mir aus, fährt mir grausam über das Gesicht, wo ist Papa, flüstert sie, Papa soll kommen, ein schlechter Geruch kommt aus ihrem Mund, ein Geruch nach angebranntem Brei, und ich sage, Papa wird kommen, sobald er kann, wird er kommen, und dann verlasse ich schnell das Zimmer, sie wird sterben, wenn er nicht kommt, sie hält das nicht durch, ich taste im Dunkeln nach dem Telefon, ich werde dort anrufen, ich werde Sohara sagen, daß er sofort kommen muß, sonst stirbt das Kind, und schon fange ich an zu wählen, von mir aus kann die ganze Welt aufwachen, Hauptsache, meine Tochter wird gerettet, doch in dem Moment, als mir ihre verschlafene Stimme antwortet, lege ich auf, meine Wörter füllen die Wohnung, ich kann ihn nicht zwingen zurückzukommen, sie muß ohne ihn gesund werden, sie darf nicht so abhängig von ihm sein, ich setze mich auf den Balkon, kühle Wolken dämpfen die Hitze, die Vorstellung ist aus, ich verstehe es plötzlich, der Vorhang ist gerissen, die Bühne zusammengebrochen, mir sind meine Grenzen offenbart worden, ich kann ihretwegen nicht die Welt verändern. All die Jahre schon vergeude ich meine Kräfte bei diesen vergeblichen Versuchen, strecke meinen Körper in ganzer Länge, um die Risse zu verdecken, von einem Jahr zum anderen wird das schwerer, und jetzt ist der Moment gekommen, vor dem ich mich gefürchtet habe, der Moment, da nichts mehr zu verstecken ist, denn die Wahrheit ist heftig und aggressiv wie Feuer, und sie zerstört mit ihrem Atem die Beete, die ich voller Angst angelegt habe. Schwerfällig stehe ich auf und gehe zurück in ihr Zimmer, die Dunkelheit in der Wohnung ist tief und
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