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Liebesleben/Mann und Frau/Späte Familie

Liebesleben/Mann und Frau/Späte Familie

Titel: Liebesleben/Mann und Frau/Späte Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zeruya Shalev
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auf den Tod zu, deshalb freut ihr euch über das Sterben, weil ihr keinen großen Unterschied zwischen Leben und Tod kennt, aber zu mir paßt das nicht, verstehst du, ich bin bereit, Leid zu empfinden, denn sonst könnte ich keine Freude fühlen, ich will nicht darauf verzichten, nie werde ich das wollen.
    Sie betrachtet mich mit offenem Mißfallen, ihre Samtaugen verdunkeln sich, du irrst dich, Na’ama, ich sage dir nicht, daß du deine Tochter vernachlässigen sollst, ich spreche mit dir über etwas ganz anderes, über innere Freiheit, tibetische Mütter schicken ihre Kinder nach Indien, wo sie erzogen werden sollen, sie trennen sich für Jahre von ihnen, manchmal sogar für immer, aber sie tun das freiwillig, denn ihrer Ansicht nach ist die physische Anwesenheit der Kinder nebensächlich, das wichtigste ist die seelische Nähe, und in seelischer Hinsicht gibt es keine Trennung, und ich frage sie, was willst du mir damit sagen, sprichst du jetzt über Noga oder über Udi, und sie sagt, reden wir ein andermal weiter, du bist jetzt zu erregt, und ich muß nach Hause zu meiner Kleinen, sie braucht etwas zu trinken, und ich betrachte ihre verhüllten Brüste, die sich unter der Bluse mit Milch füllen, und schäme mich meines Ausbruchs, jetzt habe ich es geschafft, auch sie zu vertreiben, sie läßt mich mit meiner kranken Tochter allein und eilt zu ihrem gesunden Baby zurück, mir ist noch nicht mal aufgefallen, daß sie ohne das Kind gekommen ist, plötzlich hat sie jemanden, der darauf aufpassen kann, ich bringe sie zur Tür und bleibe auf der Schwelle stehen und betrachte das heiße Wohnzimmer, es ist, als würde die Sonne oben über das Dach kriechen und die ganze Hitze auskotzen, die sie seit jenem Morgen gesammelt hat. Es ist erst ein paar Wochen her, daß Noga und ich hier eingetreten sind und Udi gesehen haben, wie er sanft umherging, das helle Kind in den Armen wiegte und flüsterte, still, still, und mir fällt wieder ein, wie unsere Beine auf der Schwelle gezittert haben, und dann verstehe ich alles.

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    16
    Werde wach, werde wach, steh auf, Jerusalem, die du getrunken hast von der Hand des Herrn den Kelch seines Grimmes! Den Taumelkelch hast du ausgetrunken, den Becher geleert. Es war niemand von allen Söhnen, die sie geboren hat, der sie leitete, niemand von allen Söhnen, die sie erzogen hat, der sie bei der Hand nahm. Dies beides ist dir begegnet: – wer trug Leid um dich? – Verwüstung und Schaden, Hunger und Schwert – wer hat dich getröstet? Denn der Herr hat dich zu sich gerufen wie ein verlassenes und von Herzen betrübtes Weib; und das Weib der Jugendzeit, wie könnte es verstoßen bleiben!, spricht dein Gott. Ich habe dich einen kleinen Augenblick verlassen, aber mit großer Barmherzigkeit will ich dich sammeln. Ich habe mein Angesicht im Augenblick des Zorns ein wenig vor dir verborgen, aber mit ewiger Gnade will ich mich deiner erbarmen, spricht der Herr, dein Erlöser.
    Ich krümme mich auf dem Teppich vor ihrem Bett, ich bin verzweifelt, eine erschöpfte Hündin, tröste mich mit alten Versen, Versen aus einem Buch, das er zurückgelassen hat, ein gemeinsames Schicksal verbindet uns hier in dieser heißen Nacht, wir werden nicht mehr gebraucht, nicht das Buch, das sich auf den Wellen von Zorn und Erbarmen bewegt, nicht das kranke Mädchen, in dessen Tiefen Schiffe untergegangen sind, und auch ich nicht, das verlassene Weib der Jugendzeit. In Ephraim ist allenthalben Lüge wider mich und im Hause Israel falscher Gottesdienst, wer hätte geglaubt, daß dies das Ende unserer Liebe sein würde, das Ende, das sie vom Tag ihres Entstehens an begleitet hat. Plötzlich ergießt sich grausames Licht über die Welt, läßt kein einziges Geheimnis mehr zu, jetzt verstehe ich die Bedeutung seines häufigen, ziellosen Herumwanderns, die Bedeutung seiner zusammengezogenen Augenbrauen, wenn wir abends am Tisch saßen und er uns mit unruhigen Augen beobachtete, oder wenn er sich zwischen den Zimmern bewegte wie ein Spion im Feindesland, ich verstehe die Bedeutung seiner Zimmertür, die so früh abends schon hinter ihm zuging, und einen Moment lang tröste ich mich, vielleicht ist es besser so, es ist doch gar nicht so schwer zu verstehen, er war krank, sie hat ihn gerettet, auch ich habe mich fast in sie verliebt, in ihre dunkle Ruhe, in ihre erstaunliche Vernunft, auch ich hätte sie mir vorgezogen, Verstehen bringt Erleichterung, aber sofort rebelliere ich, was hat er mit ihr zu tun, sie ist eine

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