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Liebesleben/Mann und Frau/Späte Familie

Liebesleben/Mann und Frau/Späte Familie

Titel: Liebesleben/Mann und Frau/Späte Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zeruya Shalev
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einem neuen Stock.

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    15
    Er spricht mit mir, und seine Stimme klingt wie ein Segensspruch, er schaut mich an, und sein Blick ist wie ein Versprechen, er berührt mich an der Schulter, und es ist, als würden seine Hände verständnisvoll und geduldig den Stacheldrahtzaun entfernen, den ich vor ihm errichtet habe, den Stacheldrahtzaun, der vor uns beiden steht, vielleicht gibt es ja so etwas wie ein Wir, es scheint, dass es das gibt, denn sofort nachdem das Licht in Gilis Zimmer gelöscht ist, höre ich das Klopfen an der Tür, und da steht er in seinem schwarzen Mantel, mit dem schmalen müden Gesicht, dem beherrschten Lächeln, in seiner aufrechten angespannten Haltung, als wäre seine Anwesenheit in meinem Haus eine Selbstverständlichkeit, an diesem Abend, an allen kommenden Abenden, und er sagt, ich hab schon gedacht, das Licht geht nie aus, was liest du ihm vor dem Einschlafen vor, »Krieg und Frieden« von Anfang bis Ende? Er hat zwei silbrige Tabletts in den Händen, gut verpackt, ich habe Essen aus dem Café mitgebracht, hast du schon gegessen? Nein, sage ich, ich habe auf dich gewartet, denn auch wenn ich nicht gewagt habe zu warten, habe ich gewartet, auch wenn ich nicht gewagt habe zu hoffen, habe ich gehofft, und wir sitzen nebeneinander auf dem Sofa, den Rest Whisky von gestern Abend in den Gläsern, beugen uns über die noch immer heißen Aluminiumtabletts und stecken die mitgebrachten Plastikgabeln hinein, als wäre auch das ein Picknick. Vielleicht will er auch diesmal keine Spuren hinterlassen und hat deshalb Wegwerfbesteck mitgebracht, und sind diese Dinge überhaupt von Bedeutung oder nur das, was sich hinter ihnen verbirgt, eine strahlende Gewissheit, die über unseren Köpfen schwebt, über unserem Treffen, eine strahlende Gewissheit, die nicht zu ihrer Umgebung passt, wie ein Mensch, der zwischen Schutthaufen herumläuft und fröhliche Lieder singt, und die ganze Zeit versuche ich, mich daran zu erinnern, wir haben keine Chance, es gibt zu viele Schwierigkeiten, unsere Körper sind mit viel zu schweren Steinen beladen, seine Kinder, seine Frau, mein Sohn, diese Nähe, der Umstand, dass wir alle in einem Viertel wohnen, dass die Jungen in einer Klasse sind, aber dieses Wissen schafft es nicht, zu einem wirklichen Gefühl zu werden, im Gegenteil, seit dem Moment, als er hereinkam, ist der Weg gebahnt, den die Götter für uns geplant haben, uns bleibt nichts anderes übrig, als ihn zu gehen, einen Fuß vor den anderen zu setzen.
    Es überrascht mich immer wieder aufs Neue, sagt er und wischt sich mit der Serviette den Mund ab, wie viele Menschen an ihren Problemen hängen, die Frau, die gerade bei mir war, wurde vor einem Jahr bei einem Anschlag leicht verletzt, und seither verlässt sie kaum das Haus, sie hütet sich vor fast allem, was das Leben zu bieten hat, aber wenn ich ihr eine medikamentöse Behandlung empfehle, lehnt sie es ab, als hätte sie noch etwas zu verlieren, ich habe Angst, mich zu verändern, sagt sie, ich habe Angst, ein anderer Mensch zu werden. Ich frage, wie lange ist sie schon bei dir in Behandlung, aber seine Antwort höre ich nicht mehr, denn plötzlich dringt ein lautes Murmeln aus Gilis Zimmer, und ich laufe schnell hin, vielleicht ist er noch gar nicht eingeschlafen, wie könnte ich Oded vor ihm verstecken, vielleicht im Badezimmer, aber seine Augen sind geschlossen, die Lippen zornig zusammengepresst, auf seinem Gesicht liegt der Ausdruck unendlicher Erschöpfung, so etwas wie Lebensüberdruss, vermutlich hat er im Schlaf gesprochen, die Worte sind schon verflogen, aber ihr Atem hängt noch im Zimmer, vielleicht hat er gesagt, ich hasse Jotams Vater, ich hasse Jotams Vater. Wie kannst du einen Menschen hassen, den du nicht kennst, wie kannst du einen Menschen lieben, den du nicht kennst, ich betrachte das Gesicht meines Sohnes, und plötzlich fällt es mir schwer, ins Wohnzimmer zurückzugehen, dort sitzt ein fremder Mann, der nicht sein Vater ist, sondern der Vater eines anderen Jungen, mit dem sich meiner im Traum vielleicht gerade um einen Stock gestritten hat, was habe ich mit ihm zu tun, ich darf mich diesem trügerischen Reiz nicht hingeben, ich muss das Ganze betrachten, mit all seinen spitzen Winkeln, zumindest vorläufig muss ich ihn von mir wegschieben, alles ist zu frisch und zu schmerzhaft in seinem Haus, in meinem Haus, in diesem Moment, in dem ich das Wohnzimmer betrete.
    Bevor er mich sieht, sehe ich ihn, wie er sich wieder und wieder den Mund mit der

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