Liebesleben/Mann und Frau/Späte Familie
ganz plötzlich, und an der Tür wollte ich noch einmal fragen, ob sie sicher sei, daß er damals von einer Freundin gesprochen hatte, nicht von einem Freund, aber ich hatte das Gefühl, nicht länger dableiben zu dürfen, weil die Geschichte ihres Opfers mich krank machte, und ich floh, rannte durch die Korridore, und erst als ich in der kalten grauen Luft stand, hatte ich das Gefühl, gerettet zu sein.
Im Autobus versuchte ich, eine Ausrede zu finden, aber es gelang mir nicht, mich zu konzentrieren, so sehr wunderte ich mich plötzlich über seine Verstrickung in mein Leben, ich empfand sogar Zorn, mit welchem Recht hatte er sich aufgeregt, wer hatte ihm erlaubt, sich aufzuregen, als ich damals in einem durchsichtigen Käfig lag, und warum hatte er sich so aufgeregt, als ich geboren wurde, und war jetzt so gleichgültig, schade, daß es nicht umgekehrt sein konnte, und warum hatte er von einer Freundin gesprochen statt von einem Freund, schließlich bestand zwischen meiner Mutter und ihm eine offene Feindschaft, und ich war so versunken in meine Gedanken, daß ich kaum merkte, daß ich bereits die Rolltreppe der Universität hinauffuhr und neben mir, auf der Rolltreppe abwärts, der Kopf des Dekans auftauchte, der in ein lebhaftes Gespräch mit seiner Assistentin vertieft war, und ich kämpfte mit mir, ob ich ihm folgen sollte, aber ich hatte keine Kraft, ich war an diesem Tag schon so viel gerannt, deshalb beschloß ich, ihm einen schönen Entschuldigungsbrief mit einer überzeugenden Ausrede zu schreiben.
Ich suchte mir einen ruhigen Platz, um den Brief zu entwerfen, deshalb ging ich hinauf zur Bibliothek. Die Reihen gesenkter Köpfe, wie in einem Gewächshaus nach der Bewässerung, machten mir angst, und ich setzte mich in eine Ecke, damit mich niemand sah. Alle waren in ihre Arbeit vertieft, nur ich schrieb einen blöden Entschuldigungsbrief, es war wirklich wichtiger, mit der Abschlußarbeit anzufangen, den Brief konnte ich auch später in sein Fach legen, deshalb lief ich zwischen den Regalen herum und suchte nach Material zu den Geschichten von der Zerstörung des Tempels, und jeder, der vorbeikam, schien mir eine schlechte Nachricht zu bringen und trieb mich weiter, und ich dachte an den Hohepriester, zu dem eine Ehebrecherin kam, um Wasser zu trinken, und er ging hinaus, um es ihr zu reichen, und entdeckte, daß sie seine Mutter war.
Genau zwischen diesen Regalen hatte ich Joni das erste Mal gesehen, ich fuhr den Wagen mit wissenschaftlichen Büchern herum, und Joni kam mit Schira vorbei, wie zufällig, und sie machte mir ein Zeichen mit der Hand, daß er es war, und da erhellte die Sonne sein Gesicht, und ich sah, daß er, im Gegensatz zum Rat der Ärzte, in seiner Jugend viel Zeit damit verbracht haben mußte, seine Pickel auszudrücken, in der Sonne waren seine Narben deutlich zu sehen, was auf mich aber beruhigend wirkte, denn ein Mensch, der offen mit so einer Haut herumlief und sich keinen Strumpf über das Gesicht zog, hatte etwas Unbekümmertes, Zuverlässiges, und sofort machte ich Schira ein Zeichen mit dem Daumen, daß von meiner Seite alles in Ordnung war.
Später, als wir uns noch einmal trafen, war ich enttäuscht, daß seine Narben weniger auffällig waren, als ich sie in Erinnerung hatte, vermutlich war der Einfallswinkel der Sonne zwischen den Regalen besonders ungünstig gewesen. Sie waren jedenfalls nicht so auffällig, daß auch ich mich hinter ihnen verstecken konnte, sondern bedeckten nur seine Wangen und sein Kinn, und ich wollte sie berühren, mich mit ihnen anfreunden, damit sie auch mir gehörten.
Wir saßen in einem kleinen Café, umgeben von einem dichten grünen Rasen, und zwischen uns stand ein Korb mit frischen Weißbrotscheiben, deren Duft mir in die Nase stieg, und ich erinnerte mich daran, wie ich genau hier mit dem jungen Mann gesessen hatte, der neben der Bäckerei wohnte, ein paar Stunden vor unserer einzigen gemeinsam verbrachten Nacht. Wir hatten damals etwas zu besprechen gehabt, ich weiß nicht mehr, was, es hatte etwas mit seiner langjährigen Freundin zu tun, und er wollte mich, so sagte er, fühlte sich aber an sie gebunden, und ich sagte, gut, dann beschließen wir von vornherein, daß wir nur eine Nacht zusammenbleiben, und er stimmte zu, sogar erfreut, wir freuten uns beide, als hätten wir einen Trick gefunden, einen Weg, den Kuchen zu essen und ihn heil zu lassen, und diese Stunden, die unserer einzigen Nacht vorausgingen, waren die süßesten, denn die
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