Liebesnacht im Wuestenpalast
seit gestern Abend fühlte sie sich besser. „Jetzt klingst du wie meine Mutter.“
Er sah neugierig aus. „Wie ist sie denn so?“
„Sie ist sehr elegant. Gebildet. Und sie liebt uns über alles. Das letzte Jahr war sehr hart für sie. Für uns alle.“
Er drängte sie nicht, und plötzlich spürte sie den Wunsch, ihm alles zu erzählen. Vielleicht würde er dann verstehen, warum sie sich so nach Liebe und Glück sehnte.
„Mein Bruder ist gestorben. Roland kam bei einem Autounfall ums Leben. Und danach haben wir – meine Brüder Joshua und Heath – herausgefunden, dass meine Eltern ihn adoptiert hatten, bevor wir zur Welt kamen.“
„Das war ein Schock, oder?“
„Ja. Es fühlte sich an wie ein Betrug.“
Shafir sagte einen Moment lang nichts. Am Horizont sah Megan die dunklen Schatten von Raben, die sich gegen den Himmel abhoben.
„Das kann ich verstehen. Es wäre mir genauso gegangen.“
„Es war so schwer zu verstehen, warum sie uns nie etwas gesagt haben. Mum sagte, dass wir erst zu jung waren, um es zu verstehen. Und später hatten sie Angst, dass sich Roland wie ein Außenseiter vorgekommen wäre, wenn sie es ihm gesagt hätten.“
„Das kann ich auch verstehen.“
„Aber wir haben ihn geliebt. Es wäre egal gewesen, dass er adoptiert war. Er wäre immer unser Bruder geblieben.“
Er legte seine Hand auf ihre, mit der sie immer noch das Geländer umklammerte. „Dann solltet ihr glücklich sein, dass ihr euer Leben so lange mit ihm teilen durftet.“
Der Druck seiner Hand vermittelte ihr ein tröstliches Gefühl.
„Ja, das stimmt.“ Shafir hatte recht. Sie hatte großes Glück gehabt, mit Roland aufzuwachsen. Und mit dem Rest ihrer wunderbaren Familie. „Aber es war eine harte Zeit. Und bevor wir richtig um ihn trauern konnten, tauchte Rafael auf.“
„Rafael?“ Er klang plötzlich seltsam. „Du hast einen Mann kennengelernt?“
Shafir zog seine Hand weg. Sogleich verschwand das tröstliche Gefühl. „Nein, nein. Rafael ist der uneheliche Sohn meines Vaters. Er wurde geboren, kurz nachdem meine Eltern Roland adoptiert hatten. Aber viel schlimmer ist, dass meine Mutter nichts von ihm wusste – oder von der Affäre meines Vaters. Und wir auch nicht.“
„Also noch ein Schock.“
Ein warmer Windhauch wehte von der Wüste herüber und blies Megan ein paar dunkle Haarsträhnen ins Gesicht. Gedankenverloren strich sie sie zur Seite. Sie schämte sich, wenn sie daran dachte, wie feindselig sie Rafael am Anfang behandelt hatten. Über all das hatte sie noch nie mit jemandem gesprochen. Normalerweise erzählte sie Fremden nicht gleich ihre Lebensgeschichte. Aber Shafir kam ihr nicht wie ein Fremder vor. Und sie wollte nicht, dass er weiter schlecht von ihr dachte. „Ich nehme nicht an, dass du verstehst, wie furchtbar das für uns war.“
„Wieso nicht?“ Er runzelte die Stirn.
„In deiner Welt ist es normal, Halbgeschwister zu haben. Von einem verheirateten Mann wird nicht erwartet, dass er treu ist.“
„Nur etwa sieben Prozent der Männer in Dhahara haben eine zweite Ehefrau.“ Shafir sah sie streng an. „Aber selbst dann erwartet man von ihnen, dass sie ehrlich sind. Jede Frau weiß, was sie für ihren Ehemann bedeutet. Die erste Frau hat immer mehr Macht als die anderen. Und das Gesetz von Dhahara besagt, dass sie einverstanden sein muss, wenn ihr Mann eine zweite Frau heiraten will. Sonst ist die Hochzeit ungültig. Und sie wüsste auf jeden Fall, wenn eine andere Frau von ihrem Ehemann schwanger ist.“
„Ich würde nie zustimmen, dass mein Mann eine zweite Frau heiratet. Ich kann es überhaupt nicht verstehen, wie eine Frau so etwas zulassen kann.“
Shafir zuckte die Schultern. „Die alten Sitten ändern sich langsam. Viele moderne Frauen in Dhahara verlangen von ihren Männern, vor der Hochzeit zu unterschreiben, dass sie keine zweite Frau heiraten. Und dass sie nicht mit der Familie des Mannes unter einem Dach leben wollen. Das ist ihr gutes Recht.“
„Es wäre dumm von ihnen, es nicht zu tun.“ Megan sah ihn an. „Meine Mutter dachte, mein Vater und sie gehörten zusammen bis ans Ende ihrer Tage. Sie war schockiert, als sie erfuhr, dass er sie betrogen hatte. Eine Zeit lang dachten wir, sie würde sich scheiden lassen. Sie zog zu ihrem Bruder. Aber nach ein paar Wochen kam sie zurück. Mein Vater vermisste sie furchtbar. Und sie verzieh ihm.“
Shafir erwiderte ihren Blick. „Deine Mutter muss deinen Vater sehr lieben, um ihm zu verzeihen. Und wenn
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