Liebesnächte in der Taiga
Finger. »Spotten Sie nicht darüber … oder ich bringe Sie um!«
»Halt den Mund!« Die Ärztin zündete sich die Papyrossa an und machte ein paar tiefe Lungenzüge. Dann hustete sie trocken und zerdrückte die Papyrossa an der Wand. »Ich sage, sie schläft. Sie kommt gleich hier ins Zimmer. Und in zwei Wochen kannst du sie wieder an der Hand nehmen und mit ihr auf dem Eis Schlittschuh laufen. Ein wenig müde wird sie noch sein …«
»Sie lebt?« stotterte Semjonow. »Wie haben Sie das gemacht?«
»Eine kleine Operation und eine Bluttransfusion. Einer von diesen deutschen Verbannten hatte die gleiche Blutgruppe. Glück, mein lieber Pawel Konstantinowitsch, weiter nichts. Das Ärztliche war nicht so aufregend.«
»Sie lebt«, flüsterte Semjonow. Dann sank er auf das Bett zurück, drehte den Kopf zur Wand und weinte.
»Du hast keine Nerven mehr«, sagte die Kirstaskaja und trat näher. Sie beugte sich über das schlafende Kind und streichelte es mit leichter, kosender Hand. »Wann hast du zum letztenmal gegessen?«
»Vor drei Tagen«, schluchzte Semjonow.
»Dann komm.« Sie klopfte ihm auf die zuckende Schulter, und als er sich nicht rührte, boxte sie ihn in den Rücken. »Steh auf und laß das Heulen! Ich habe Piroschki mit frischem Lachs gekocht, Gurkensalat und marinierte Pilze. Zum Nachtisch gibt es in Honig kandierte Kalmuswurzeln und Erdbeeren.«
»Ich kann nichts essen, Katharina Kirstaskaja.« Semjonow trocknete seine brennenden Augen. »Ich möchte Ludmilluschka sehen …«
»Die siehst du noch ein ganzes Leben lang. Und jetzt schläft sie. Also komm mit und iß … Was soll dein Weib von dir denken, wenn es aufwacht und sieht einen ausgewrungenen Waschlappen am Bett sitzen?«
Eine böse Woche folgte, eine Woche des Wartens und Hoffens, des stillen Betens und lauten Fluchens. Die Kirstaskaja saß stundenlang am Bett Ludmillas, wenn der Puls wieder wegblieb und das Herz flatterte. Um den Flüssigkeitsverlust im Körper auszugleichen, gab sie ihr am vierten Tag eine Kochsalzinfusion und legte einen Dauertropf mit Glukose an. Semjonow wunderte sich, woher sie diese Medikamente hatte, und konnte nicht begreifen, daß man hier oben an der Lena Penicillin und Tropfflaschen, ein Narkosegerät und sogar ein EKG besaß. Auch ein Röntgenraum war vorhanden und ein Bestrahlungszimmer, in dem Kurzwellen und Höhensonne verabreicht wurden.
»Ihr macht euch im Westen alle ein falsches Bild von Sibirien«, sagte die Kirstaskaja, als sie Semjonows Staunen bemerkte. »Warum glaubt ihr, der Ural sei die Grenze der Kultur? Wer erzählt euch diesen Unsinn? Und warum? Seid ihr alle Vögel Strauße, die vor dem Fortschritt Rußlands den Kopf in den Sand stecken? Was hier in der Taiga sich täglich vollzieht, zwischen Ob, Jenissej und Lena, ist der größte Umbruch eines Volkes, den es je gegeben hat. Und niemand will es sehen, niemand glauben … Es ist doch Dummheit, vor der Wahrheit zu fliehen.« Die Kirstaskaja faltete eine Zeitung auseinander, die Jakutskaja Prawda, die mit der Post, die wöchentlich einmal nach Bulinskij kam, gebracht wurde und dann im Ort von Hand zu Hand ging.
»In vier Jahren werden wir hier fernsehen wie in den großen Städten«, sagte die Ärztin und zeigte Bilder aus Jakutsk, Shigansk, Leninha und anderen Orten an der Lena. Auf den Dächern der Häuser ragten die Fernsehantennen in den Himmel, nicht anders als in jeder westlichen Stadt. »Wenn das große Netz der elektrischen Leitungen bis zum Eismeer verlegt ist, wird Sibirien das schönste Land der Erde werden.«
Semjonow nickte. Er glaubte es, denn er kannte jetzt die Taiga. Und er liebte sie. Die mondhellen Sommernächte unter den hundertjährigen Zedern und den schweigenden Winter mit dem flammenden Nordlicht am unendlichen Himmel.
»Jeden Monat kommt mit der Post alles, was ich anfordere«, sagte die Kirstaskaja. »Die Zentralapotheke in Jakutsk hat alles, was ein Arzt benötigt. Sogar ausländische Medikamente, sogar Präparate von Bayer und Hoechst. Und amerikanische Antibiotika. Alles haben wir. Wir leben nicht hinter dem Mond, wir erobern den Mond!«
Nach vierzehn Tagen konnte Ludmilla zum erstenmal aufstehen. Am Arm Semjonows ging sie ein paar schwankende Schritte bis zum Fenster, und dort lehnte sie sich an das schmale Fensterbrett, preßte das Gesicht gegen die kalte Scheibe und sah hinaus über den Lattenzaun auf die riesige, vereiste Lena und den blauen, kalten, wolkenlosen Himmel, an dem die Sonnenscheibe hing wie
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