Liebesnächte in der Taiga
Trage im warmen Flur ab und hoben gemeinsam den steifen, blutleeren Körper Ludmillas auf das fahrbare Bett.
»Die ist tot!« sagte Borja, als er den schmächtigen Körper zudeckte. »Was soll's?«
»Sie atmet doch noch, du Idiot!« schrie Haffner.
»Aber sterben wird sie, das sieht man doch, Genossen. Die tiefen Augen, die bläulichen Augendeckel, das weiße, spitze Näschen, die schmalen Lippen … vorbei ist's, Genossen.«
»Hau ab, du Stiefelpisser!« brüllte Wancke auf deutsch. »Hier ist jede Minute wichtig!«
Borja verstand nichts, aber er hörte, daß es etwas Unhöfliches war. Zur Hölle mit den Deutschen, dachte er, schob das Bett fort und rollte es in den sogenannten Operationsraum.
Die Ärztin Katharina Kirstaskaja erhob sich von einem Schemel, auf dem sie gewartet hatte, und trat an Ludmilla heran. Sie hob die Lider der Bewußtlosen hoch, fühlte den kaum tastbaren Puls und horchte ihren Herzschlag ab.
»Geh hinaus!« sagte sie zu Borja, der hinter ihr stand und die weiße Haut Ludmillas und die Zartheit ihres Körpers bewunderte. Borja war Jakute, und die Weiber, die er bisher kannte, waren kräftige, muskulöse Bärchen mit gelblicher Haut und Fettpölsterchen an den Gelenken. Heiß wie Steine in einem Backofen waren sie, und sie kicherten und gackerten wie Hühner, denen man Maiskörner vorwirft. Hier aber lag ein weißes Elfchen, ja wirklich, wie ein Engelchen sah sie aus, wie die zarten Wesen auf den Ikonen der Kirche. Da darf man doch staunen, nicht wahr, Genossen?
»Hinaus? Wieso?« fragte Borja begriffsstutzig.
»Ich brauche dich nicht mehr.«
»Aber warum denn, Genossin Ärztin?«
»Raus!« Das war ein Kommandoton; die dunkle Stimme der Kirstaskaja dröhnte. Borja zog die Schultern hoch und den Kopf ein. Beleidigt verließ er den OP und stieß auf dem Flur auf die drei deutschen Verbannten.
»Hinaus!« gab Borja den Befehl weiter und zeigte auf den Ausgang. »Nun seid nicht so störrisch, Genossen.«
»Man sollte deinen Eierkopp aufklopfen!« sagte Kurt Wancke und lehnte sich gegen die weißgestrichene Bretterwand. Es war eine weiße Lackfarbe, die jeden Tag abgewaschen wurde. Die Kirstaskaja hielt auf peinliche Sauberkeit. Die Betten hatten weiße Bezüge, weiße Bettlaken und weiße Kopfkissen. Und das an der Lena, in der Taiga.
Während Borja noch mit den drei deutschen Verbannten diskutierte, untersuchte die Kirstaskaja den Leib Ludmillas. Was sie geahnt hatte, fand sie bestätigt. Ein Rest der Plazenta war zurückgeblieben, die Gebärmutter hatte sich nicht wieder geschlossen, und nun verblutete Ludmilla langsam aus der Tiefe ihres Leibes heraus.
Die Kirstaskaja handelte schnell und überlegt. Es blieb keine Zeit mehr für Bestimmungen der Blutnebenfaktoren, es ging nur um die Blutgruppe allein und um die Zufuhr frischen Blutes. Im kleinen Labor neben dem OP bestimmte sie die Blutgruppe.
»Wer hat Gruppe B?« rief sie in den Flur, nachdem sie die Tür einen Spalt breit geöffnet hatte.
»Ich!« antwortete Kurt Wancke.
»Sicher?«
»Wenn man mir mein Soldbuch gelassen hätte, da stand's drin!«
»Gesund?«
»Ich glaube.«
»Reinkommen!«
Wancke betrat den Operationsraum. Unter einer Lampe, die von einem eigenen Transformator gespeist wurde, lag Ludmilla unter den weißen Laken. Ihre Brust bewegte sich kaum, ja, man sah keinen Atem mehr.
»Lebt sie noch?« fragte Wancke leise.
»Warum rufe ich dich sonst?« Die Kirstaskaja schob einen Stuhl neben den OP-Tisch und holte einen Schlauch mit einem Zweiwegehahn und einem kleinen gläsernen Kontrollzylinder. Es war das einfachste, primitivste Blutübertragungsgerät, das Wancke je gesehen hatte. »Wasch dir den Arm, und dann hilfst du mir, Ludmilla auf den Tisch zu legen. Du bist verheiratet?«
»Ja, Frau Doktor. Und zwei Kinder habe ich.«
Sie hoben den schmalen Körper Ludmillas auf den OP-Tisch, die Kirstaskaja schlug die Laken zurück; und während sich Wancke wusch und seifte und wieder wusch, führte die Ärztin die Hohlnadel in die Armvene Ludmillas.
»Setz dich neben sie und kontrolliere die Übertragung«, ordnete die Kirstaskaja an, als Wancke mit dem Waschen und Desinfizieren seines Armes fertig war. »Ich muß noch etwas aus ihr herausholen.«
Wancke nickte. Er ließ sich die Hohlnadel einstechen, stützte seinen Arm auf den Tisch und sah stumm zu, wie sein Blut durch den Schlauch, durch den Glaszylinder und weiter in den Körper Ludmilla Semjonowas floß.
Als die Kirstaskaja die Operation beendet hatte,
Weitere Kostenlose Bücher