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Liebesnächte in der Taiga

Liebesnächte in der Taiga

Titel: Liebesnächte in der Taiga Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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der wie ein Sieb aussieht.«
    »Leute!« sagte Schliemann laut. »Wir wissen ziemlich genau, wo unser Bruder Pawlik in den Wald gegangen ist. Aber es hat geschneit. Darum seid doppelt wachsam und geht jeder Ahnung von Spur nach, die ihr seht. Und ruft. Schreit, so laut ihr könnt. Es kann sein, daß er die Richtung verloren hat und sich verirrte und nun irgendwo unter einem Baum wartet, daß man ihn sucht, daß er einen Laut hört.«
    Jeder wußte, daß Schliemann nur wegen Ludmilla Semjonowa so sprach. Kein Jäger wartet im Wald, bis man ihn sucht. Er kennt seine Richtung genau … Er hat am Tag die Sonne und in der Nacht die Sterne, und er verirrt sich nie so gründlich, daß er nicht mehr weiß, wo Norden oder Süden ist. So etwas gibt es gar nicht, Brüderchen. Selbst der größte Dummkopf weiß, daß im Osten der Tag beginnt und im Westen die Sonne sich schlafen legt. Und dazwischen sind Norden und Süden. So einfach ist die Welt gebaut! Und gerade Semjonow sollte sich verirren?
    Mit starken Handlaternen, mit Geschrei und immerwährenden Rufen: »Pawlik! Pawlik! Pawlik! Pawel Konstantinowitsch! Semjonow! Antworte, Brüderchen! Pawel Konstantinowitsch!« Und alles noch mal im Chor, schaurig in der eisigen Nacht: »Pawel Konstantinowitsch!« Und wieder, und immer wieder. Vier Stunden lang wurde gesucht, wurde der Wald in langer Kette durchkämmt, fuhr der Schlitten, mit Borja als Kutscher und Ludmilla, durch die Taiga, ganz langsam, von Baum zu Baum, Senken hinunter, Hügel empor, über zugefrorene Wasserläufe und vereiste Windbrüche. Ludmilla starrte auf den kleinen Lichtkreis, den die Lampe in die Nacht warf, und mit jeder Minute sank in ihr die Hoffnung, Semjonow wiederzusehen.
    Aber sie klagte nicht, sie weinte nicht … Ganz starr war ihr Gesicht, verschlossen und fast trotzig.
    Nach vier Stunden fand jemand die halb zugeschneite Bärenfalle. Man umringte sie, wunderte sich, wer hier so etwas anlegte, und begann ein Verhör. Es war niemand da, der zugeben konnte, sie gegraben zu haben.
    »Vielleicht waren es jakutische Nomaden?« sagte Kurt Wancke aus Berlin. »Von uns gräbt doch keiner eine Bärengrube! Wir wissen doch, wo sie ihren Wechsel haben, und schießen sie wie echte Jäger. Das können nur ortsfremde Nomaden sein. Und da sie eingedrückt ist, muß sie schon lange gegraben worden sein. Vielleicht schon im vergangenen Jahr.«
    Man nickte und zog weiter durch den Wald. Der Irrtum gehört zum Menschen wie der Atem.
    Nach fünf Stunden blies Schliemann die Suche ab. Semjonow konnte sich nicht weiter in den Wald gewagt haben, nur mit einer Axt bewaffnet, um einen Tannenbaum zu schlagen. Mit traurigen Augen und zusammengekniffenen Lippen trat Schliemann an den Schlitten, den Borja langsam zu der Menschengruppe lenkte.
    »Es hat wenig Zweck mehr, Ludmilla Semjonowa«, sagte er, und jeder hörte, wie schwer ihm die Worte fielen. Und es war keiner da, dem nicht das Herz schwer war.
    Borja warf den Schlitten herum und jagte zwischen den Stämmen davon, als säße der Waldgeist Ljeschi in seinem Nacken und zwicke ihn. Schneestaub überschüttete die Männer, und als sich die wirbelnden Flocken gelegt hatten und sie das Eis aus den Augen kratzten, waren sie allein und hörten nur noch das helle Keuchen der kleinen, struppigen Pferdchen.
    Semjonow war tot … Ein Rätsel blieb es nur, wie er gestorben war. Ein Wolf war nicht sein Mörder. Wölfe hinterlassen blutige Spuren. Ein Bär schleift keinen Menschen mit. Ein wilder Renhirsch forkelt ihn zu Boden und zieht weiter. Nur ein Mensch kann einen anderen Menschen spurlos von der Erde verschwinden lassen. Das ist der Vorteil eines denkenden Hirns.
    »Wir werden weitersuchen«, sagte Schliemann, als sie in Gruppen nach Nowo Bulinskij zurückkehrten. »Morgen … den ganzen Tag … und, verdammt noch mal, auch übermorgen …« Er blieb stehen und auch die anderen gingen nicht weiter. »Wer ist am weitesten im Wald gewesen?«
    »Ich!« sagte ein kleiner Jakute in einem zottigen Fuchsbalgkleid. »Zwanzig Werst.«
    »Zwanzig Werst. Und sonst keiner so weit? Ist das nicht lächerlich, Freunde?« Schliemann wandte den Kopf und blickte zurück auf die schweigende Taiga. »Und wenn nach einundzwanzig oder dreiundzwanzig oder gar dreißig Werst andere Menschen wohnen und Semjonow bei ihnen ist? Wissen wir's? Hinter uns und vor uns sind tausend Werst Wald! Und tausend Möglichkeiten.« Schliemann nickte bekräftigend und ging weiter. »Morgen suchen wir wieder. Mit

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