Liebesnächte in der Taiga
Semjonow wischte sich über die Augen, streifte die gefrorenen Tränen ab und sah zu Illarion hinauf wie zu einem Denkmal. »Du bist seit vierzig Jahren Sträfling?«
»Ungefähr, Brüderchen. Vor vier Jahren bin ich mit zwanzig anderen ausgebrochen. Aus dem Lager Semenska. Ein halbes Jahr sind wir durch den Wald gezogen, bis wir eine Stelle fanden, wo es sich leben ließ. Da haben wir Hütten gebaut, haben uns sechs Frauen gestohlen, und so leben wir nun. Ein einfaches Leben ist es, aber es ist ein freies Leben! Sechs Frauen für einundzwanzig Männer sind natürlich ein bißchen wenig, findest du nicht auch? Da gibt es Schwierigkeiten, glaub es mir. Immer sind sie schwanger. Und keiner weiß, wer's nun gewesen ist. So hat jedes Kind einundzwanzig Väter … Es ist eben eine neue, andere Welt, Freundchen!« Illarion lachte und stützte Semjonow, dem die ersten Schritte im tiefen Schnee so schwerfielen, als habe er wochenlang seine Beine nicht mehr bewegt. »Du wirst in dieser Welt leben«, fügte er hinzu.
»Ich?« Semjonow blieb stehen.
»Es muß sein, Brüderchen. Du kannst nicht mehr zurück nach Nowo Bulinskij. Wer einmal uns Brodjagi gesehen hat, gehört zu uns, bis er stirbt. Das ist das einzige Gesetz, das wir kennen! Und das Diebstahlsgesetz, ja. Wer bei uns dem anderen etwas wegnimmt, dem wird die rechte Hand abgehackt.« Illarion lächelte breit. »Wir haben alle noch unsere Hände am Körper. Nun geh schon, Brüderchen, wir haben einen weiten Weg.«
»Ich mache dir einen Vorschlag, Illarion«, sagte Semjonow und blieb stehen. »Du läßt mich zurück nach Nowo Bulinskij, und ich habe dich nie gesehen. Ich schwöre es dir bei der Seligkeit meines Frauchens und meines Kindes.«
Illarion schüttelte den Kopf. »Es geht nicht um dich, mein Freund, es geht um uns alle«, sagte er dumpf. »Bedenke … sechs Frauen für einundzwanzig Männer. Und immer sind sie schwanger! Ist das ein Zustand? Ein paarmal sind welche von uns in die Dörfer gegangen. Ja, die Weibchen waren zur Liebe bereit und haben mit ihnen geschlafen. Aber mitgehen in den Wald wollte keine. Sag selbst, ist es nicht lästig, immer vierzig oder gar sechzig Werst zu wandern, nur um ein Weibchen zu umarmen?«
»Ich kann euch bei der Lösung dieses Problems nicht helfen!« sagte Semjonow.
»Vielleicht doch, Freundchen. Wir wollen sehen. Los, laß uns gehen!« Er umarmte Semjonow, aber es war keine freundschaftliche Geste, sondern ein Griff, der Semjonow vorwärts schob und keinen Widerstand duldete. So gingen sie durch den Urwald, über zwei Stunden lang, rasteten in einer Senke, aßen kaltes Rentierfleisch und tranken dazu Wodka.
Das Waldlager der einundzwanzig Brodjagi und ihrer sechs Frauen lag zwischen zwei Hügeln in der Talsenke, mitten in der dichtesten Taiga. Kein Flugzeug hätte es entdecken können, keines Menschen Fuß verirrte sich dahin. Nur Fuchs und Bär, Luchs und Hermelin kannten das Tal und den kleinen Fluß, der es durchzog; er hatte keinen Namen und mündete irgendwo im Urwald in die Muna.
Als Illarion und Semjonow die Talsenke erreichten, blieben sie auf dem rechten Hügel stehen, und Illarion zeigte in die weiße, gefrorene Tiefe. Zwischen den hohen Baumwipfeln kräuselte sich dünner, weißer Rauch empor, zerflatterte über den Bäumen und zog träge, wie Nebelschwaden, über die vereisten Kronen der Zedern und Lärchen.
»Siehst du was?« fragte Illarion.
»Rauch. Das ist alles.«
»Ist das nicht gut getarnt?« Illarion stützte sich auf seinen Bärenspieß. Er war stolz auf sein freies Leben. »Hier sind wir die ersten Menschen, Brüderchen. Und wir werden auch die letzten sein. Wenn sich die anderen draußen zerfleischen und sich die Herzen aus den Leibern reißen … wir werden weiterleben, auf unseren warmen Öfen liegen und unser Weibchen lieben, wenn wir nach Plan an der Reihe sind.«
Das Lager der Brodjagi war in der Tat etwas Besonderes. Um ein großes Haus mit Lagerschuppen gruppierten sich genau einundzwanzig Hütten aus dicken Stämmen. Das Ganze war mit drei Meter hohen, oben zugespitzten Palisaden umgeben, eine Burg, in der die Rechtlosen einen eigenen, winzigen Staat gegründet hatten. Es gab einen Präsidenten, einen Stellvertreter und einen Justizminister. Der letztere war zuständig für die Schlichtung aller Streitigkeiten, und er tat es mit der Weisheit der Gesetzlosen: Er stellte die beiden Gegner in die Mitte des Lagers, gab jedem einen gleich langen und gleich dicken Knüppel und sagte:
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