Liebesnächte in der Taiga
sonnengoldene Lena.
Als sie am Krankenhaus vorbeifuhren, waren die Fenster von Katharinas Wohnung weit geöffnet. Die Kirstaskaja stand in ihrem Wohnzimmer und winkte. Semjonow schwenkte ein Handtuch, und Ludmilla ließ ihr Kopftuch im Wind flattern.
Herrlich sah es aus, das geliebte Nowo Bulinskij. Der Kirchturm mit der goldbronzierten Zwiebelkuppel, der Wasserturm, die Silos, die Häuser an den geraden Straßen, dahinter die grüne Wand des Waldes und der flimmernde Dunst aufsteigender, verdunsteter Feuchtigkeit.
Der Atem der Taiga.
Die Kirstaskaja winkte, solange sie das Boot auf der Lena erkennen konnte und das Handtuch Semjonows und das Kopftuch Ludmillas im Winde wehen sah. Dann wurde der weiße Punkt von Wasser und Sonne aufgesogen und zerrann im Nichts. Mit einem Seufzer trat die Ärztin zurück und schloß das Fenster.
Eines Tages waren sie da, die Kommissare aus Irkutsk. Mit fünf großen Wagen kamen sie nach Nowo Bulinskij. Der Postvorsteher in Shigansk hatte sie schon bei seinem Kollegen in Bulinskij angemeldet, und der hatte sofort den Dorfsowjet und Väterchen Alexeij, den Popen, benachrichtigt.
Die schlimme Zeit war angebrochen.
Man merkte es schon am nächsten Tag, dem Sonntag. Nur die alten Weiblein waren in der Kirche und ein paar Greise, denen man die Religion verzeiht. Selbst Frolowski, der Vorsänger, war nicht gekommen. »Heiser ist er!« ließ er durch einen Jungen bestellen, der die Glocken läuten mußte. »Keinen Laut bringt er heraus.«
Väterchen Alexeij seufzte und betete für Frolowskis Gesundheit, obgleich er wußte, daß alles Lüge war. Lüge aus Angst … Gott verzeiht sie.
Im Haus des Dorfsowjets und in der Schule wohnten die Kommissare. Sie sahen sehr wohlhabend aus, trugen im Dienst hellgrüne Sommeruniformen und außer Dienst moderne hellgraue Anzüge mit seidenen Hemden und bunten Krawatten. Die Kinder vor allem staunten sie an wie Wesen von einem anderen Stern, denn wer trägt schon in Bulinskij Seidenhemden und Krawatten?
Sehr freundlich waren die Herren aus Irkutsk, das muß man sagen. Sie verteilten Bonbons an die Kinder, weil sie die Kirchgänger am Sonntag laut belachten, im Auftrag ihrer Eltern und mit Wissen der alten Frauchen und Greise, was aber die Kommissare nicht erfuhren. Der Lehrerin Anna Petrowna machten sie gleich in der ersten Nacht einen schamlosen Antrag, und sie konnte sich nur retten, indem sie zu Schliemann flüchtete, dessen Haus in der Nähe der Schule stand.
Man sieht, es kam neues Leben nach Nowo Bulinskij.
Anders wurde es allerdings, als die Kommission die Arbeit aufnahm und die ehemaligen deutschen Plennys der Reihe nach in der Stolowaja, die als Amtsstube bezeichnet wurde, aufmarschierten.
Gründliche Verhöre waren es, stundenlang, höflich und gefährlich, weil sie so freundlich waren.
»Es hat keinen Sinn, zu leugnen oder zu lügen, Brüder«, sagte der erste, der aus den Fragemühlen der Kommissare herauskam und die Stolowaja etwas erschöpft verließ. »Sie haben von jedem von uns genaue Unterlagen bei sich. Dicke Aktenstücke. Alles steht da drin, alles! Ihr glaubt es nicht … sie kennen uns genau! Wißt ihr, was sie mir gesagt haben: ›Ihre Mutter ist 1951 gestorben. Ihr Vater lebt jetzt in Bückeburg und hat dort eine Schlosserei. Ihr jüngster Bruder ist Feldwebel bei der Bundeswehr. Sie selbst wurden am 1.1.1960 amtlich für tot erklärt. Wollen Sie zurück nach Deutschland?‹« Der Mann schnaufte durch die Nase. »Das alles steht in den Akten, und so fragen sie.«
»Und was hast du geantwortet?« fragte Schliemann leise.
»Ich habe gesagt: ›Genossen, ich habe hier meine Frau und drei Kinder. Ich bin Vorarbeiter auf der Sowchose Munaska, habe zwei Kühe und drei Rene. Kann ich das mitnehmen nach Deutschland?‹ Und sie haben geantwortet: ›Nein! Weder die Frau noch die Kinder, noch den Besitz. Wenn Sie wollen, können Sie nur allein zurück nach Deutschland. Denn Sie bekennen sich damit zum Kapitalismus.‹ Und ich habe gesagt: ›Genossen, gebt mir meinen Paß. Ich werde ein guter, fleißiger Russe sein!‹« Der Mann sah sich im Kreis der anderen um. »Wer von euch hätte etwas anderes gesagt? Ich soll Anuschka und die Kinder hierlassen …?«
So war es. Keiner sagte etwas anderes als der erste der Gefragten. Und jeder bekam einen Vermerk in seinen Akten und einen Händedruck des Genossen Oberkommissars.
»Sie hören von uns, Genosse!« hieß es. »Sie hören von uns.«
Auch Willi Haffner mußte sich vorstellen.
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