Liebesnächte in der Taiga
alle an, denn es werden unruhige Zeiten kommen. Man schickt uns eine politische Kommission hierher.«
»Ersäufen werden wir sie, die Schwätzer!« schrie jemand aus der dichtgedrängten Menge.
»Man soll uns in Ruhe lassen!« brüllte ein anderer.
»Wem sagt ihr das, Genossen?« Der Dorfsowjet hob beide Arme. »Bin ich nicht ein armer Hund wie ihr. Bedenkt, was auf mich zukommt. Wollten wir nicht ein Theaterchen gründen und Schiller spielen? Nichts ist's damit, Genossen! Schulungen muß ich halten über Marxismus und Lenin. Und ihr werdet lernen müssen, was im ›Kapital‹ steht. Rauchen werden eure Gehirne, Brüder! Aber das ist nicht alles, Genossen! Die Kommissare aus Irkutsk werden jeden von uns genau befragen und durchleuchten, vor allem unsere deutschen Bürger.« Der Dorfsowjet suchte mit den Augen die Deutschen. Schliemann, Wancke und die anderen, die längst Russen geworden waren. Auch Semjonow sah er in dem Gewühl der bärtigen Köpfe. Sein blondes Stoppelhaar hob sich deutlich ab.
»Einbürgern will man euch, Freunde! Einen guten Paß sollt ihr bekommen. Mütterchen Rußland drückt euch an ihre Brust.«
»Ich denke, es ist seit Jahren alles klar?« rief Schliemann. »Was wollen die aus Irkutsk denn von uns?«
»Bisher hattet ihr nur das Wohnrecht, Bürger«, sagte der Dorfsowjet, und plötzlich war es still in der Stolowaja. Man begann zu ahnen, daß die Kommission aus Irkutsk nicht einfach in der Lena zu ertränken war. Plötzlich ging es wieder um die Existenz, um das Leben, um Weib und Kind und die mühsam aufgebaute neue Heimat.
Der Dorfsowjet wischte sich den Schweiß von der Stirn. Die Luft in der Stolowaja war dick wie Brei. Ein Sirup aus Männerdunst und Machorkarauch.
»Ich sage es euch, obwohl das Schreiben streng vertraulich ist. Ich sage es euch, damit ihr alles überlegen könnt, bevor die Kommission aus Irkutsk in Nowo Bulinskij eintrifft.«
Dabei sah er Semjonow an. Und Semjonow verstand.
Ludmilla war ganz ruhig, als er nach Hause kam und ihr alles berichtete. Nur schüttelte sie den Kopf, als er davon sprach, nach Süden zu ziehen.
»Wir haben nun ein Kind«, erwiderte sie. »Ein Haus haben wir, Freunde und Geld, Land und den Fluß, und um uns herum ist Frieden. Wo willst du hin, Pawluscha? Das Leben der Wölfe ist vorbei. Nun werden wir wie Tiger sein, die ihre Höhle verteidigen.«
»Gegen Kommissare und Militär?« Semjonow nahm die kleine Nadja auf die Arme und trug sie im Zimmer umher. Sie quietschte vor Freude und zerrte an seinen Haaren. »Uns bleibt wieder nur die Flucht.«
»Nein!« Ludmilla sprach es aus wie etwas Endgültiges. »Zur Muna gehen wir zurück. In unsere Goldgräberhütte.« Sie nahm Nadja aus Semjonows Armen und drückte sie an sich. »Dort wurde sie geboren …«
Semjonow nickte. Die Stunden der Geburt Nadjas zogen an ihm vorbei, und er hob die Schultern und atmete laut, denn sein Herz wurde schwer.
»Ziehen wir also an die Muna«, sagte er. »Ewig werden sie nicht in Bulinskij bleiben, die Kommissare aus Irkutsk. Vielleicht können wir vor dem Winter noch zurückkehren.« Er ging zu Ludmilla, küßte sie und ließ seine Hände durch ihre schwarzen Haare gleiten. »Recht hast du, Ludmilluschka. Wir gehören jetzt zur Taiga … und aus ihr verjagt man keinen Wolf.«
Die Kirstaskaja half ihnen, den Hausrat zusammenzupacken. Große Bündel wurden es, in Säcke und Decken verpackt, und zwei Wagen voll fuhr Schliemann zur Lena und verlud sie auf das Motorboot. Als die Zeit des Abschieds kam, standen alle am Landesteg, die neuen Freunde von Bulinskij. Auch Borja war da, der Krankenpfleger, der heulte wie ein verprügelter Junge, und der Dorfsowjet mit seiner Frau, die zum Abschied eine Kiste Birkensekt mitgab, Väterchen Alexeij, der Pope, segnete Ludmilla und Semjonow, bevor sie aufs Boot gingen, und hängte der kleinen Nadja ein zierliches goldenes Doppelkreuz an einem goldenen Kettchen um den Hals. Sogar Willi Haffner war gekommen … Anna Haffnerowa hatte ihn ans Ufer der Lena gerollt, und er saß nun in seinem Rollstuhl, lachte wie ein spielendes Kind und winkte Semjonow zu, ohne ihn mehr zu erkennen.
»Holt mich, wenn alles vorbei ist«, sagte Semjonow mit belegter Stimme und drückte jedem die Hand. »Ich gehöre zu euch, ihr wißt es doch.«
»Leb wohl, Bruder.« Der Dorfsowjet selbst war es, der das sagte. Er küßte Semjonow auf beide Wangen und umarmte ihn.
Dann legte das Motorboot ab, zog einen weiten Bogen und glitt hinaus auf die
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