Liebesnächte in der Taiga
Fenster, starrte auf die Straße und wunderte sich, warum nicht eine Gruppe Soldaten mit einem höheren Offizier vorfuhr und ihn abholte, um ihn nach Moskau zu bringen.
Auf seinen Kurierbrief war lediglich ein Telegramm aus dem Kreml eingetroffen. Von niederschmetternder Kürze. »Abwarten.«
Ein Wort nur.
Wer weiß, was Warten in Rußland bedeutet, Warten auf sein Schicksal, der kann ermessen, wie armdick die Nerven Karpuschins sein mußten, daß er noch Zeit fand, sich am weißen Körperchen Marfas zu erfreuen und mit ihr am Ufer der Lena spazierenzugehen.
Von mongolischen Händlern auf dem Markt von Jakutsk hatte Marfa eine neue Achatfigur gekauft. Einen Fisch, dessen Rücken hohl war und als Aschenbecher diente.
»Ist er nicht schön?« fragte sie mit kindlicher Freude und trug den Achatfisch mit beiden Handflächen im Zimmer herum. »Du hast mir versprochen, mein wilder Wolf, daß du mit mir zu den Schleifern fährst. Ich möchte zu gern sehen, wie sie aus den rohen Steinen solche herrlichen Sachen machen.«
»Ich will dir jeden Wunsch erfüllen!« sagte Karpuschin. »Noch kann ich es, mein Schwänchen. Gut denn … fahren wir morgen nach Nowo Bulinskij. Vom Distriktsowjet werde ich mir ein Auto leihen. Auf dem Weg nach Bulinskij kann ich mir noch einmal das deutsche Lager ansehen. Ein widerlicher Mensch ist dieser Major Kraswenkow. Ein unmilitärischer Ofenhocker. Ein Rätsel ist es mir, wie er Major geworden ist.«
Am nächsten Tag – ein Freitag war's – fuhr ein Milizsoldat im Auftrag des Distriktsowjets eine große Moskwitsch-Limousine vor das Haus, meldete sie, bekam von Karpuschin ein Lob, auf das er wenig Wert legte, und wartete am Straßenrand, bis Karpuschin und Marfa abgefahren waren.
Es war der 11. August.
Über Nowo Bulinskij lag die Sonnenglut wie eine gläserne Glocke. Über den Feldern der Sowchose drehten sich die Wassersprenger: In langen Rohren wurde das Wasser der Lena in die Sickergräben geleitet. Erträglich war es jetzt nur auf dem Strom. Jeder beneidete die Fischer, wenn sie braungebrannt, aber mit kühler Haut ans Ufer kamen und die Holzwannen mit dem Fang ausluden.
Das Trinkwasser im Wasserturm nahm beängstigend schnell ab.
Mit Willi Haffner ging es jetzt zu Ende. Anna Haffnerowa, seine Frau, erduldete es still und gefaßt. Sie war darauf vorbereitet, und es war schon ein Glück, daß nicht die Lena ihren Mann zum Eismeer mitgerissen hatte, sondern ihn hier, in seinem Blockhaus, sterben ließ.
Was die Kirstaskaja befürchtet hatte, bewahrheitete sich jetzt: Nicht die Lähmung durch den Beckenbruch war Haffners Schicksal, sondern die Hirnquetschung. Aber es war ein gnädiges Sterben … Haffner selbst spürte gar nichts davon. Er war ein glücklicher Mensch, der von einem Tag zum anderen plötzlich zu einem Kind geworden war, alle und jeden anlachte, sich mit der Lampe, dem Sessel, dem Wasserglas und dem Löffel unterhielt, das Kopfkissen mit ›Herr Reinhardt‹ anredete und ihm versprach, den Kamin bis nächste Woche aufzumauern.
Anna Haffnerowa pflegte ihn mit unendlicher Geduld. Sie fütterte ihn, sie wusch ihn, sie verrichtete die niedrigsten Dienste für ihn, und keiner hörte sie klagen. »In meinen Armen wird er sterben«, sagte sie.
Frolowski, der ›Dreieckige‹, der Glockenläuter und Vorsänger in der Kirche, war Vorarbeiter geworden und leitete die ›Entwurfsabteilung‹ der Achatschleiferei. Sein plötzlich entdecktes Talent im Entwerfen von Formen wurde neidlos anerkannt. Er hatte bereits begonnen, sein erträumtes Haus am Lenaufer zu bauen, mit dem berühmten Fenster, von dem aus er gleich angeln konnte. Nur die drei eingeplanten Weibchen fehlten noch. »Wartet ab, Brüder!« sagte er jedem, der ihn darauf ansprach. »Wenn ich genug Rubelchen gespart habe, fahre ich nach Jakutsk oder sogar bis Irkutsk. Und wenn ich zurückkomme, werdet ihr die Augen verdrehen, denn dann bringe ich Weibchen mit, wie ihr sie noch nie gesehen habt!«
In den ersten Augusttagen berief der Dorfsowjet völlig außer der Reihe eine Versammlung aller Männer von Nowo Bulinskij in die Stolowaja ein. Der Saal war fast zu klein, um alle zu fassen. Die Stühle und Tische hatte man schon weggeräumt. Mann an Mann standen sie dicht gedrängt, schwitzten und rauchten, spuckten Sonnenblumenschalen um sich und schimpften.
»Genossen«, sagte der Dorfsowjet, und sein Gesicht zeigte einen sorgenvollen Ausdruck. »Ich habe einen Brief bekommen. Aus Irkutsk von der Regierung. Er geht uns
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