Liebesnächte in der Taiga
Er blickte zu Marfa, und dort flammte ihm unverhüllter Haß aus den dunklen Augen entgegen, ein Haß, der einen Augenblick seinen Herzschlag lähmte.
»Es muß sein, Marfuschka«, sagte er leise. »Es geht um mein Ansehen und um die Ehre der Nation!«
Sie antwortete nicht. Nur ihre Lippen verzogen sich, als wolle sie Karpuschin anspucken … Dann drehte sie sich um und ging fort zu dem Hubschrauber hinter dem Haus.
»Leutnant, übernehmen Sie das Kommando«, sagte Karpuschin mit belegter Stimme.
Jefimow schloß die Augen.
Er hörte kein Kommando, er hörte die Salve … ein Sonnenstrahl fiel in sein Herz, heißer als glühendes Eisen …
»Ein guter Schuß«, lobte Karpuschin, als er von dem Toten zurücktrat. »Genau ins Herz!« Dann stand er stramm, grüßte den verkrümmten Körper im gelben Staub und ging, den Kopf nach vorn gesenkt, die Straße hinunter zum Fluß. Dort stand er lange allein, starrte über den Tedschen und kam sich leer vor wie ausgebrannte Schlacke.
23
Fünf Stunden kletterten Semjonow und Ludmilla den Berg hinauf, auf einem Pfad, der den Namen Teufelstritt verdiente. Als die kleine Nadja aufwachte und weinte, hockte man sich in eine der Höhlen im Fels, und Ludmilla gab der Kleinen zu essen. Fladen aus Weißmehl, ein paar gezuckerte Erdbeeren, ein Stückchen gebratenen Fisch. Semjonow und Ludmilla aßen nichts. Sie versuchten es, aber die ersten Bissen mußten sie hinunterwürgen, und ihr Magen begann zu schmerzen.
Nach dieser Rast stiegen sie weiter und tasteten sich an den Felsen entlang. Semjonow trug die große Ledertasche mit Nadja an einem Lederriemen um den Hals, da sie nur hintereinander über den schmalen Pfad gehen konnten und die Tasche für Ludmilla allein zu schwer war.
In der sechsten Stunde ihrer Kletterei machte der Pfad einen scharfen Knick, der Boden bröckelte ab, die Felsen waren verwittert und grau und brüchig. Aber hinter dem Knick des Pfades sahen sie die große Schlucht, hinter der Persien beginnen sollte, das letzte, dunkel drohende Stück Weges, das hinein in die Sonne der Freiheit führte.
Semjonow blieb stehen und legte den Arm um Ludmillas Schulter.
»Am Abend sind wir frei«, sagte er, und zum erstenmal seit Wochen war seine Stimme unsicher vor Ergriffenheit.
Ludmilla nickte stumm. Sie verließ ihre Heimat. Für sie starb Mütterchen Rußland an diesem Tag.
Als sie in die Schlucht hinabstiegen, tat Ludmilla einen falschen Tritt. Sie stolperte, stieß einen hellen Schrei aus, hob das linke Bein und lehnte sich an einen starken, verkrüppelten Busch.
»Mein Fuß, Pawluscha!« rief sie. »Mein Knöchel. Umgeknickt bin ich. Es geht nicht mehr. Ich kann nicht auftreten.«
Semjonow stellte die Tasche mit Nadja hin und lief zurück zu Ludmilla. Sie hockte auf einem großen Stein, hatte die derben Schuhe ausgezogen und hielt ihren Fuß mit beiden Händen umklammert. Sichtbar schwoll der Knöchel an, und als Semjonow sich hinkniete und den Fuß leicht bewegte, stöhnte Ludmilla auf und griff vor Schmerzen in Semjonows Haare.
»Was machen wir nun?« fragte Ludmilla, als Semjonow sie auf seine Arme nahm und zum Eingang der Schlucht trug. Dort war Nadja aus der Tasche geklettert, rutschte über den Boden und suchte kleine, glitzernde Steinchen.
»Wir werden den Fuß kühlen und warten, bis du wieder laufen kannst.«
»Unmöglich! Karpuschin wird uns suchen.«
»Karpuschin denkt, wir sind schon in Persien.«
Ludmilla schüttelte den Kopf. Sie richtete sich auf, versuchte ein paar Schritte zu gehen und lehnte sich dann keuchend gegen den Felsen. Ihre Lippen zitterten, und es war kalter Schweiß, der über ihr verzerrtes Gesicht rann.
»Es geht«, sagte sie mit klappernden Zähnen. »Immer ein paar Meter … wir werden zur Grenze kommen … ich kann es aushalten, Pawluscha.« Aber ihre Augen gaben die Lüge preis, und der Schmerz in ihrem Gesicht war nicht mehr zu bändigen.
Semjonow sah wieder hinauf zu den Bergkuppen, hinter denen Persien lag. Wie ein Verdurstender, der hinter einer dicken, gläsernen Mauer einen See sieht, kam er sich vor. Er roch das Leben, aber der Körper klebte an der Erde fest.
»Komm«, sagte er. »Versuchen wir es.«
»Was, Pawluscha?«
»Ich werde euch tragen. Drei Werst nur, mein Gott, drei lächerliche Werst! Recht hast du, Ludmilluschka. Wir müssen jetzt in Metern denken! Ich trage euch, so gut es geht.«
Sie packten alles wieder zusammen. Die kleine Nadja schrie, als Ludmilla ihm die Tasche mit der weinenden Nadja auf
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