Liebesnächte in der Taiga
den Rücken schnürte und darüber die gerollten Decken legte. Wie ein bepackter Bär sah er aus, einer jener Gauklerbären, die Rucksäcke trugen und Drehorgeln zogen und von Jahrmarkt zu Jahrmarkt tappten.
»Ich gehe«, sagte Ludmilla, als Semjonow die Arme vorstreckte, um sie auch noch auf sich zu laden. »Wenn du mich stützt, muß es gehen, Pawluscha.«
So gingen sie in die Schlucht hinein, in das grüne Wirrwarr. Es war, als durchbrächen sie eine Wand zu einer neuen Welt … der Boden wurde saftig, an einen schmalen, kristallklaren Bach kamen sie, der irgendwo aus den Felsen hervorbrach.
»Weiter, Pawluscha«, sagte sie jedesmal, wenn er stehenblieb und auf ihren Fuß sah. »Weiter! Haben wir schon eine Werst hinter uns?«
Mitten in der Schlucht verließ Ludmilla die Kraft. Sie weinte plötzlich, lehnte den Kopf an Semjonows Schulter und schlang die Arme um seinen Hals.
»Ich verbrenne«, stammelte sie. »Pawluscha, ich verbrenne vom Fuß aus. Faß mich an … ganz heiß bin ich. Bis in die Haare gehen die Flammen …«
Semjonow stützte sie und schwieg. Sie war nicht heiß, kein Fieber hatte sie, im Gegenteil, ganz kalt fühlte sich ihr Kopf an, so als sei alles Blut aus ihm gewichen. Da bückte er sich etwas und hob sie mit einem Ruck vom Boden.
»Wie leicht du bist, Ludmilluschka«, sagte er leise. »Wie ein krankes Vögelchen. Leg die Arme um meinen Hals und halte dich fest … wir werden die Freiheit erreichen! Wir werden es! Heute noch!«
Aber es ging langsam. Jeder Schritt war ein Taumeln, jeder Meter durch diese verdammte, schöne, stille grüne Schlucht kostete die Kraft eines ganzen Tages.
Nach hundert Metern zitterten Semjonows Lippen. Aber er ging weiter, stemmte die Beine gegen den Boden, hob die Füße ab, machte einen Schritt, spürte in den Hüften und den Lenden die ungeheure Anstrengung wie ein Stechen und Beben. Da biß er die Zähne zusammen und kämpfte gegen den herrlichen Gedanken an: Bleib stehen! Laß dich hinfallen! Ruhe dich aus!
»Nein!« sagte er laut. »Nein! Nein! Nein!«
Ludmilla starrte ihn an. Ganz nahe waren ihre Augen, und sie drückte den Kopf gegen sein Gesicht und wischte mit ihren Haaren den Schweiß aus seinen Augen.
»Mein großer, starker Wolf«, sagte sie leise. »Mein mächtiger Bär.«
Das gab ihm neue Kraft für vier, fünf Schritte. Dann aber erlahmten seine Arme. Ludmilla rutschte auf den Boden, er hatte nicht einmal mehr die Kraft, sie sanft abzusetzen. Sie fiel, als seine Arme herabsanken, auf das feuchte Gras und stieß wieder gegen ihren verstauchten Fuß.
»Oh«, stöhnte sie. »O Pawluscha!« Dann sah sie auf und erblickte Semjonow, der im Gras kniete, den Kopf tief nach vorn, ein Bild völliger Erschöpfung. »Wir haben zwei Werst geschafft! Es müssen zwei Werst sein. Sieh es dir an …«
Semjonow nickte, aber er sah sie nicht an. Nach vorn sank er um, streckte sich, und aus der großen Tasche auf seinem Rücken rollte die kleine Nadja und kroch weinend zu Ludmilla hin.
Ludmilla wusch ihrem Mann das Gesicht, humpelte zu dem kleinen Bach, zog ihre Bluse aus, tauchte sie in das kalte Wasser und massierte mit ihr seine Brust. Was half es? Eine Hülle nur noch war der Körper Semjonows … in jeder Spur seiner Füße lag ein Tropfen Kraft, nun war er leer wie ein sonnenausgedörrtes Faß.
Und wieder kam ein Abend, schneller, als es Ludmilla und Semjonow erwartet hatten. Über die Berge schoben sich die Nachtwolken, die Schlucht wurde schwarz, als übergösse man sie mit Tinte.
»Es können bis zur Grenze nur noch eineinhalb Werst sein«, sagte Semjonow, als er Ludmillas Abendessen – einen Reisbrei mit gedörrten Aprikosen – mühevoll hinuntergewürgt hatte, denn seine Kehle war wie verbrannt und schien so eng geworden zu sein, daß nur noch Wasser durchrann in den Magen. »Hast du Angst?«
»Ich habe nie Angst gehabt!« Ludmilla sah ihn verwundert an.
Semjonow hatte eine Idee. Man sah ihm an, daß es ihm schwer wurde, so zu denken, und daß es ihm noch schwerer war, es auszusprechen.
»Dummheit ist's, Ludmilluschka«, sagte er gedehnt. »Vergessen wir es.«
»Was, Pawluscha?«
»Nichts.« Semjonow legte das Kinn auf die angezogenen Knie und starrte in die Dunkelheit. Es wurde wieder kalt, hier in der Schlucht noch kälter als auf dem Felsenpfad. Beide Decken hatten sie über die kleine Nadja gelegt, und nun drang der Nachtwind durch ihre dünnen Kleider bis auf die Knochen.
»Ich weiß, woran du gedacht hast«, erwiderte Ludmilla
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