Liebesnächte in der Taiga
grüßte verblüfft. Ein weiblicher Kapitän bei uns, dachte er. Sie kann nur vom Lager kommen. »Es können gut drei Stunden Fahrt sein, Genossin.«
Ludmilla Barakowa nickte. Wie ein Teufel fuhr sie an und jagte aus Kusmowka hinaus.
Ihr Gesicht war unbeweglich wie ein Steinblock … ein schöner weißer Marmorblock.
Dreiundzwanzig Tote, dachte sie. Und Semjonow ist dabei. Ich ahne es. Es kann gar nicht anders sein. Warum sollte ich im Leben einmal Glück haben …
Es war das erstemal, daß hier ein Zug entgleiste.
3
Die Eisenbahnunfallstelle erwies sich als ein großer, wilder Haufen aufeinandergeschobener Waggons mit einer noch qualmenden Lokomotive und einer Versammlung sich anschreiender Männer. Ludmilla Barakowa erreichte Ajachtaska in genau drei Stunden, wie der Polizist an der Straßenecke von Kusmowka es gesagt hatte. Der Bahndamm war bereits von Miliz abgesperrt, aber den weiblichen Kapitän in dem hüpfenden Jeep ließ man sofort durch.
An der Lokomotive stand der Lokführer, die Mütze im Nacken, und wehrte sich gegen die Anklagen eines Leutnants und wild gestikulierender Waldarbeiter.
»Wie ein von Flöhen in den Hintern gezwickter Affe ist er gefahren!« brüllte jemand aus der Menge. »Ich sage noch: Der hat aber Dampf auf der Pfanne … und da kracht's auch schon!«
»Die Bremsen, Genossen!« schrie der Lokführer zurück. »Die Bremsen versagten! Sie packten einfach nicht mehr. Und wie kommt es, daß die Schienen sich verschoben? Ist das meine Schuld? Oder ist das die Schuld der Eisenbahnbrigade? Schiebt nicht alles auf einen ab, Brüderchen, nicht immer auf den armen Arbeiter! Ich habe ein süßes Frauchen und vier Kinderchen in Komssa … ich will sie wiedersehen, wenn ich diese verfluchte Strecke abgefahren bin.«
Ludmilla kümmerte sich nicht um das Gezeter der Leute. Was man ihr in Kusmowka erzählt hatte, stimmte zum Glück nicht. Von unkenntlichen Toten und Leichenbergen konnte keine Rede sein. Nichts schien passiert zu sein, als daß ein paar Wagen aus den Schienen gesprungen waren und nun schräg auf dem Bahndamm lagen. Vier, fünf Mann hatten Schrammen abbekommen, ein paar auch einige Beulen.
Sie lief die Wagenreihe entlang, bis sie den Personenwagen fand, der noch auf den Schienen stand, unversehrt und von den Insassen verlassen. Nur ein einzelner Mann stand am Fenster, rauchte eine Pfeife und schien sich um das Unglück und um den Lärm um sich herum nicht zu kümmern.
Das ist er, dachte Ludmilla Barakowa und blieb tief atmend stehen. So sieht er auch auf dem Bild aus. Blond, jungenhaft, zäh und gleichgültig. Ein Mann, der Eisen fressen kann, ohne sich daran den Magen zu verderben.
Daß er so ruhig am Fenster stand und rauchte, sogar Kringel in die kalte Luft blies und sich sichtbar daran erfreute, wie sie wiegend davonschwebten, ärgerte Ludmilla plötzlich maßlos. Sie stapfte durch Dreck und Erdbrei an den Wagen heran, stellte sich unter das Fenster und stemmte die Hände in die Hüften. Ihre zierliche, aber frauliche Gestalt hatte etwas rührend Kriegerisches an sich.
»He! Sie da!« rief sie mit heller Stimme, die schneidend klingen sollte, zum Fenster hinauf. »Sind Sie Semjonow?«
»Gewiß, Genossin Kapitän!« Semjonow klopfte seine Pfeife am Fensterrahmen aus. Die noch glühende Asche flog nur Zentimeter an Ludmillas Haaren vorbei und wurde vom Wind weggetrieben. Unwillkürlich riß sie den Kopf schräg zur Seite. Ihre schwarzen Augen blitzten.
»Von Höflichkeit halten Sie wohl nichts?« schrie sie. »Und von Arbeit auch nicht! Während die anderen sich um den Zug kümmern, rauchen Sie Pfeife, als ginge Sie das alles nichts an!«
»Sie haben wiederum recht, Genossin Kapitän. Mich geht das alles nichts an. Ich bin Reisender und kein Bahnarbeiter. Ich bin auf dem Weg nach Kusmowka, um dort eine Stelle anzutreten. Was auf der Fahrt dorthin passiert, ist Sache der für diese Strecke maßgebenden Genossen!« Er lächelte mild, als er Ludmillas flammende Augen sah. »Wir sind doch alle Spezialisten, Genossin! Jeder in der Sowjetunion ist ein Spezialist. Es wäre unverantwortlich, sich als Spezialist für Holz um die Pflichten der Spezialisten für Lokomotive oder Schienen zu kümmern. Das sehen Sie doch ein, nicht wahr?«
»Ich glaube, Sie verstehen den Kommunismus falsch! Wir alle sind eine Einheit, wir sind …«
»Einen Augenblick, Genossin!« Semjonow winkte, trat vom Fenster zurück und sprang wenig später neben Ludmilla Barakowa in den Dreck. »So redet es
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