Liebesnächte in der Taiga
buschigen Augenbrauen sah, wußte man, was hinter der breiten Stirn vorging.
Karpuschin schwieg nach einer halben Stunde Vortrag, selbst erschüttert über das wenige, was er zu berichten wußte, und sagte zum Schluß:
»Wir sind zu der Erkenntnis gekommen, daß Heller sich nach Sibirien abgesetzt hat, um dort an die Raketenwerke heranzukommen. Wir müssen also auf Meldungen von dort warten.«
»Sehr schön, Genosse Oberst.« Marschall Malinowskij hieb mit der Faust auf den Tisch. Chimkassy senkte den Kopf. O Mütterchen Rußland, dachte er. Das kann die Karriere kosten. Das wenigste, was dabei herauskommt, ist eine Versetzung in irgendein Kaff an der mongolischen Grenze, wo es mehr Steine und Geier gibt als Tränen, die man weinen kann.
»Da haben wir wieder den Beweis, wie lückenhaft unsere Abwehr ist!« brüllte Malinowskij. »Wir sind die stärkste Militärmacht der Welt, aber jeder halbwegs Intelligente kann uns durch den Hintern in die Därme kriechen und uns dort zerfressen! Wir sind ein Ruheplatz für Parasiten! Meine Haare stehen aufrecht, Genossen! Haben Sie den Fall Penkowsky schon vergessen?«
Oberst Karpuschin seufzte. Darauf hatte er gewartet. Das mußte kommen, das war das Paradestück Malinowskijs, wenn er gegen GRU und KGB ins Feld zog. Oberst Oleg Wladimirowitsch Penkowsky, Rußlands erfolgreichster Spion nach dem Großen Vaterländischen Krieg, der alles an die Amerikaner und Engländer meldete, von den Abschußrampen der Raketen bis zum Ehebruch Chruschtschows mit der Kultusministerin Furzewa, von den Angriffsplänen der Roten Armee bis zu den Waffenlieferungen an Kuba. Er war das Ohr und das Auge der westlichen Welt im Geheimzimmer des Kreml, bis er in den Mittagsstunden des 16. Mai 1963 unter den Schüssen eines Exekutionskommandos starb. Wenn von da an irgend etwas im Bereich des Nachrichtendienstes nicht klappte, wurde Oberst Penkowsky zitiert, als flammendes Mahnmal, als beschämender Beweis, wie sehr ein Mensch sich in einem anderen Menschen irren kann.
»Sie haben also gar keine Anhaltspunkte?« fragte Marschall Malinowskij dumpf.
»Gar keine, Genosse Marschall.« Chimkassy sprach zum erstenmal. »Wir wissen nur, daß er vom CIA eingeschleust wurde und ein frecher Hund ist.«
»Das ist ungeheuer viel!« Malinowskij erhob sich hinter seinem langen Schreibtisch. Auf seinen breiten Schulterstücken lag die Sonne. Das Fenster neben ihm war geöffnet, die heiße Luft stand fest wie eine Wand im Zimmer. Karpuschin zog den Kopf ein. Wenn Malinowskij scherzte oder ironisch wurde, war der Grad erreicht, wo man früher ein Kreuz schlagen und sich mit einem Leben in der Stille abfinden mußte. »Es hat keinen Sinn, Sie für diese Panne verantwortlich zu machen«, fuhr der Marschall fort. »Die Schuld liegt genauso bei der Botschaft in Rolandseck wie bei der mangelnden Sorgfalt des KGB. Nur eins sage ich Ihnen« – hier hob sich die Stimme und dröhnte wie ein Paukenschlag –, »wenn sich herausstellt, daß dieser Heller wirklich militärische Geheimnisse herausschleust, werden einige Genossen daraus die Konsequenzen ziehen müssen! Wir verstehen uns?«
»Ganz klar, Genosse Marschall.«
Karpuschin und Chimkassy nickten, grüßten und verließen das ungastliche Zimmer Malinowskijs. Erst unten in der Eingangshalle des Kriegsministeriums wagten sie, wieder miteinander zu sprechen.
»Das war deutlich«, sagte Chimkassy und wischte den Schweißlederrand in der Mütze ab. »Sollte es wirklich wahr werden, daß wir über solch ein Schwein von deutschem Spion stolpern, Matweij Nikiforowitsch?«
Karpuschin zog die Schultern hoch. Er war noch ein wenig bläßlich, und in seinen Ohren klang die Stimme des Marschalls wider. »Er hat uns keinen Termin genannt, Freundchen«, sagte er und glaubte fast selbst an diesen rettenden Strohhalm. »Er hat uns nicht gesagt, am soundsovielten müßt ihr mir Heller präsentieren. Wir haben Zeit … und wenn wir geschichtlich denken, ist das gut, denn die Zeit war immer noch die beste Verbündete von Mütterchen Rußland!«
Es sollte sich zeigen, daß Karpuschin, der Mann mit dem ›nie versagenden Gefühl‹, auch hier wieder recht behielt.
Zwei Wochen später legte man ihm eine kurze Meldung auf den Tisch, die Matweij Nikiforowitsch elektrisierte.
»Peilwagen VI meldet: Kurzwellensender funkt verschlüsselten Text an Unbekannt von 2 - 2.13 Uhr morgens. Sendestelle konnte angepeilt werden. Sie liegt im Haus Woronzowo Polje 17. Besitzer: der Möbelhändler
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