Liebesnächte in der Taiga
Täubchen …«
»Woher kommst du?«
»Von weit her … Dort tragen die Mädchen bunte Bänder im Haar, und die Knaben lernen erst reiten und dann sprechen.«
»Aus Kasachstan, stimmt es?«
»Ja. Aus Tschimkent. Wie stark du bist, wie hart deine Muskeln sind. Sag, du könntest einen Bären erwürgen …« Sie hob den Kopf ein wenig, ein Zittern lief durch ihren zierlichen Leib. »Wie der Wind heult, Pawluscha … halt mich fest, ganz fest … es ist so schön, sich in dich zu verkriechen …«
So schliefen sie ein, nach vielen Zärtlichkeiten, nach vielen Küssen, nach Hingabe und Erfüllung, und sie waren so glücklich, daß Semjonow schon schlaftrunken sagte:
»Wir werden in diesem Glück ertrinken, Täubchen. Wir überleben es nicht …«
Sie hörte es schon nicht mehr. Sie schlief mit dem seligen Lächeln eines Kindes, das man in den Schlummer sang.
Noch bevor der Morgen graute, wachte Semjonow auf und kroch vorsichtig, damit er Ludmilla nicht aufweckte, aus dem Bett. Er zog sich an und setzte sich an das Fenster.
Nach dem Zauber der Liebe überfiel ihn mit ganzer Macht die Erkenntnis der Nüchternheit und Fragwürdigkeit seiner Situation.
Was geschehen war, hatte er kommen sehen und sich lange dagegen gewehrt. Nun gab es kein Ausweichen mehr, kein Versteckspielen, keine Lügen. Ludmilla Barakowa liebte Pawel Konstantinowitsch Semjonow, aber dieser Semjonow hieß in Wahrheit Franz Heller und war ein Deutscher. Ein Spion des CIA, kurz vor seinem Ziel, den Abschußrampen von Komssa.
Die Situation war ausweglos, Semjonow sah es ein. Er drehte sich eine Zigarette aus Machorka und Zeitungspapier. Man muß eine Entscheidung treffen, dachte er. Es gibt nur die Alternative: Entweder bleibe ich Semjonow und führe das Leben eines ehrbaren Russen … oder ich bleibe Franz Heller. Dann wäre es besser, morgen wegzugehen und zu verschwinden. Er ist verschollen, wird man nach tagelangem Suchen sagen. Die Taiga hat ihn verschlungen oder die Tunguska. Vielleicht kommt er im Frühjahr irgendwo zum Vorschein … in einem verschneiten Loch, im sumpfigen Ufer … vielleicht nie. Sibirien ist ein hartes Land, Genossen. Es lohnt sich nicht, um einen Menschen zu jammern …
Semjonow saß am Fenster und rauchte versonnen. Hinter ihm, im Bett an der Wand, dehnte sich Ludmilla und flüsterte im Schlaf. Es klang wie das Zirpen einer Grille im sommerlich warmen Gras.
Ich bleibe Semjonow, entschloß sich Heller in dieser Minute und wußte, daß es endgültig, unwiderruflich war. Er zerdrückte seine Zigarette und legte die Hände übereinander.
Mag kommen, was da will, dachte er. Ich werde mich abmelden von Dimitri und Major Bradcock. Ich werde sagen: Verzichtet auf mich. Ich mag nicht mehr. Laßt mir den Rest meines Lebens. Ende.
Was werden sie dann tun? Wie wird Bradcock reagieren? Zwischen Kusmowka und Deutschland liegt ein halber Erdteil, liegen Ural und Wolga, Ob und Irtysch, Tundra und Taiga, Steppe und Sumpf. Er wird sich damit abfinden und einen neuen Agenten schicken. Er wird meinen Namen durchstreichen in seiner Liste, als sei ich tot. Und er wird nicht einmal lügen dabei, denn ich, Franz Heller aus Riga, bin gestorben in dieser Nacht, dem 17. Oktober, während eines Schneesturms, gestorben in den weißen, weichen Armen einer herrlichen Frau. Es war ein freiwilliger Tod, der alles auslöscht, was hinter einem liegt. Alles!
Semjonow ging auf Zehenspitzen zu Ludmilla zurück und betrachtete ihr schlafendes Kindergesicht. Unendliche Zärtlichkeit war in ihm, ein Gefühl, das er nie gekannt hatte.
Aber er befand sich in einem tödlichen Irrtum. Er bedachte nicht, daß ein Spion niemals über sich selbst, über sein Schicksal, über sein Leben entscheiden kann. Andere bestimmen, was er zu tun und zu lassen hat – und was mit ihm geschieht, wenn er ausbrechen und sich seinem Auftrag entziehen will. Entfernungen, und seien es halbe Kontinente, spielen dabei keine Rolle.
In dieser Nacht hatte Pawel Konstantinowitsch Semjonow den Himmel erobert, aber auch die Hölle aufgerissen.
Er wußte es nur noch nicht …
4
Die Wochen, die hinter Matweij Nikiforowitsch Karpuschin lagen, gönnte er selbst seiner Schwiegermutter nicht.
Es begann damit, daß er, zusammen mit General Chimkassy vom GRU, dem militärischen Nachrichtendienst, in den Kreml kommen mußte, um Marschall Malinowskij Bericht über den deutschen Spion Franz Heller zu erstatten. Malinowskij schwieg während des langen Berichtes, nur wenn man seine zuckenden
Weitere Kostenlose Bücher