Liebesnächte in der Taiga
Westdeutschland spioniert? Was haben Sie verraten? Waren Sie an Sabotageakten beteiligt?
Und als letztes, immer wieder, wie ein Wassertropfen aus einer defekten Leitung, die Frage: Wo ist Heller?
Alajew erklärte alles. Er gab bereitwillig Auskunft, denn ein Mensch, der weiß, daß er am Rand seines Lebens steht, hat keine Geheimnisse mehr. Nur bei der Frage nach Heller blieb er hart und sagte immer wieder: »Ich weiß es nicht!«
Oberst Karpuschin putzte sich am zehnten Tag – es war 3 Uhr morgens – die Nase und kam aus der Dunkelheit in den Glanz der Scheinwerfer. Er trug heute seine Uniform mit allen Orden. Bis 2 Uhr war er im Kreml bei einer Feier gewesen, die man zu Ehren einer französischen Handelsdelegation gegeben hatte. Er hatte Wodka und Krimsekt getrunken und war in einer freundlichen Stimmung.
»Stepan Iwanowitsch, was soll der Blödsinn«, sagte er milde. »Ihr Weibchen Jekaterina hat ja alles gesagt.«
»Sie weiß überhaupt nichts.« Alajew beugte sich vor und legte die Hände vor die geblendeten Augen. »Was habt ihr mit Jekaterina gemacht?«
»Nichts! Sie hat eine schöne Zelle mit einem blanken Boden, bekommt eine gute Verpflegung und leidet keine Not.« Karpuschin legte Alajew die Hand schwer auf die Schulter. »Erleichtern Sie Ihr Gewissen, Alajew. Wenn Sie alles gestehen, was Sie wissen, werde ich mich dafür einsetzen, daß man Sie nicht hinrichtet, sondern in ein Straflager steckt. Sie können überleben, wenn Sie die Wahrheit sagen.«
Alajew schwieg. Er wußte, daß es für ihn keine Milde gab. Ob Straflager oder eine Erschießung in der Kiesgrube … es gab keinen Alajew mehr. Aber es gab einen Pawel Semjonow, der an der Wurzel des Bolschewismus nagte; eine Ratte, die man nie entdecken würde. Er würde das Werk vollenden, für das Alajew bisher gelebt hatte.
Im Hintergrund klappte eine Tür. Klappernde Absätze kamen näher, blieben hinter den Scheinwerfern stehen. Alajew nahm die Hände von den Augen und blinzelte gegen die Lichtflut an.
Eine Frau ist gekommen, dachte er. Nicht Jekaterina, denn sie trug keine Schuhe mit hohen, klappernden Absätzen.
»Er ist es!« sagte eine helle Mädchenstimme. »Es ist der Mann, der mit Heller im Botanischen Garten spazierenging.«
»Danke, Marfa.« Karpuschin sah Alajew fragend an. »Sie hören es, Stepan Iwanowitsch. Eine Augenzeugin. Marfa Babkinskaja, die Heller als Dolmetscherin von Intourist betreute. Heller nannte damals einen falschen Namen … doppelt falsch, denn in Wirklichkeit nennt er sich jetzt anders. Wie heißt er heute?«
»Ich weiß es nicht!« sagte Alajew und senkte den Kopf. »Ich habe keine Ahnung.«
Oberst Karpuschin hob die Schultern und trat wieder hinter die Scheinwerfer. »Es hat keinen Sinn, Genossen«, hörte Alajew ihn sagen. »Wir fragen eine tote Wand! Man muß es anders machen …«
Alajew wurde wieder in seine Zelle geführt. Aber diesmal ging er nicht so sicher zurück wie in den neun Nächten vorher. Man muß es anders machen, hatte Karpuschin gesagt, und Alajew wußte, was ihn jetzt erwartete.
Zum erstenmal, seit er denken konnte, kniete er an seiner Schlafpritsche nieder, bekreuzigte sich und betete leise. Er suchte nach den Worten, die er einmal von seiner Mutter gehört hatte, und als er sie nicht zusammenbekam, betete er nach eigenen Worten, wie sie ihm in den Sinn kamen, wirr und angstvoll, hervorgestoßen aus einem bereits jetzt zerrissenen Herzen.
Dann schlief er, bis ihn jemand an der Schulter rüttelte. Es war der Flurkalfaktor, der ihm heißes Wasser, Kipjatok, brachte. Vor der offenen Zellentür stand ein Weidenkorb mit frischem Brot. Der herrliche Geruch zog durch den ganzen Flur, und Alajew wußte, daß jetzt die Gefangenen hinter den Türen standen, schnuppernd die Nase hoben und ihnen das Wasser im Mund zusammenlief.
»Vierhundert Gramm heute«, sagte der Flurobmann und schob Alajew einen Kanten Brot hin. Und leise fügte er hinzu: »Ich habe dir eine Gorbuschka – ein Endstück – gegeben. Wir haben gehört, daß du heute zum Doktor sollst. Die Mutter Gottes sei mit dir, Towarischtsch.«
Alajew nickte ergriffen. Er umklammerte sein Brot, blieb stehen, bis die Tür wieder geschlossen, der Riegel zugestoßen und der Schlüssel im Schloß gedreht war, dann zerbrach er das frische Brot und brockte es in die heiße Kipjatok, so daß eine Art Mehlsuppe entstand.
Der Doktor. Er wußte nicht, was es bedeutete, aber wenn ihn die anderen Gefangenen segneten, ahnte er, daß an diesem Tag
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