Liebesnächte in der Taiga
Himmel, man kann doch keinen Felsen umwerfen!«
Semjonow stand auf, klopfte sich den Schnee ab und streckte dem Riesen die Hand entgegen. »Noch einmal, Brüderchen: Chleb-sol!«
»Christus sei mit dir!« Der Riese bückte sich, nahm das Gewehr Ludmillas aus dem Schnee, betrachtete es von allen Seiten, sagte sachverständig: »Das kommt aus einem Armeelager!« und klemmte es unter den Arm. »Ich bin Jurij Fjodorowitsch Jesseij und wohne im Wald. Ich kenne den Wald wie keiner! Was wollt ihr hier?«
»Das ist mein Weibchen Ludmilla Semjonowa.« Semjonow legte den Arm um sie. »Wir haben nicht gelogen, Brüderchen, wir suchen eine neue Heimat.«
»Hier? In der Sredne-Sibirskoje? Seid ihr doch Idioten, Freundchen?«
»Wir müssen uns vor den Menschen verstecken und zu den Wölfen flüchten.« Semjonow trat in den Feuerkreis zurück. Jesseij folgte ihm. Stumm umkreiste er den Schlitten, tätschelte den schnaubenden Pferden die Nüstern und den Nacken, sah in den Schlitten hinein und wühlte zwischen den Decken und Fellen, Kartons und Säcken. Semjonow ließ ihn gewähren, denn er wußte, wieviel von dem Wohlwollen Jesseijs abhing und daß sie verloren waren, wenn sie ihn erzürnten.
»Es reicht gut für ein halbes Jahr«, sagte Semjonow, als Jesseij mit dem Durchwühlen des Schlittens fertig war. »Wir haben uns vorbereitet auf eine lange Wanderung.«
»Mit den Gäulchen?«
»Wir haben nichts anderes, Jurij Fjodorowitsch.«
»Nach drei Wochen wären sie euch gestorben! Dann hättet ihr den Schlitten selbst ziehen müssen!« Jesseij schüttelte den Kopf. Die Dummheit der Menschen ist grenzenlos, dachte er. Sie denken, mit Schlitten und Pferdchen kommen wir bis ans Ende der Welt. Ist der Bauch satt, gibt es keine Probleme mehr! Überall mag das so sein, überall mag das seine Gültigkeit haben. Aber in der Taiga? O Brüderchen, ihr kennt die Taiga nicht. »Ihr müßt einen leichten Schlitten haben. Einen Schlitten aus Weidengeflecht, mit Stahlkufen. Und davor Renhirsche, groß und schnell und stark und zäh. Seht es euch an, Freunde … dort hinten warten sie.« Jesseij zeigte irgendwo in den dunklen Wald hinein. Dann pfiff er, und irgendwo knirschte Schnee, trappten leichte Füße. Durch die Finsternis schob sich ein schwankendes Gefährt heran, gezogen von zwei großen Hirschen, die mit ihren breiten Geweihen den Schnee von den Ästen schlugen. Ihre Nüstern dampften. Sie blieben am Feuerkreis stehen und starrten mit großen runden Augen auf ihren Herrn Jurij Fjodorowitsch. Die Pferdchen Semjonows wieherten und scharrten und stießen gegen den Schlittenkasten.
Semjonow betrachtete die beiden starken Hirsche und das leichte Schlittengebilde. Es war – dazu gehörte keine Phantasie – halsbrecherisch, mit einem solchen Gefährt durch den Schnee zu jagen, es mußte hüpfen und springen, und man hatte alle Hände voll zu tun, um die Balance zu halten. Aber es war ein schnelles Fahrzeug, es flog über die Tundren und schwang sich um die Baumstämme, und die Entfernungen schrumpften zusammen, sogar in einem Land, in dem man über Werste nicht mehr spricht, weil große Entfernungen gar nichts Besonderes sind.
Daran hat man in Alaska nicht gedacht, sagte sich Semjonow, als er zu den Hirschen ging und seine Hände über ihre warmen, dampfenden Nüstern legte. Man hat uns in die Eiswüste gesetzt mit Schlittenhunden, einmal sogar ohne sie, nur mit einem leichten Gleitschlitten, den wir an Lederriemen hinter uns herzogen. Zweihundert Kilometer mußten wir zu Fuß zurückkriechen. Aber wie lächerlich war das alles gegen die Wirklichkeit! Ein geflochtener Schlitten mit Rentierhirschen, und sogar die Taiga verliert ihre größten Schrecken.
»Wo wollt ihr hin?« fragte Jesseij.
»Irgendwohin, Brüderchen.« Ludmilla hielt die froststarren Hände über eines der niederbrennenden Feuer. »Pawel Konstantinowitsch meinte, man könne sich im Norden als Jäger niederlassen.«
»Ihr seid Politische?«
Ludmilla zögerte, aber Semjonow nickte. »Ja, wir sind Politische!«
»Saboteure?«
»Nein.«
»Kommunistenfeinde?«
»Nein.« Semjonow atmete tief auf. »Ich weiß nicht, ob du es verstehst, Jurij Fjodorowitsch. Hat man dir schon einmal gesagt, wenn du nach links gehen wolltest: Halt! Du mußt nach rechts gehen!?«
»Nein!«
»Du willst etwas tun, vielleicht einen Baum fällen, der dir im Weg steht, oder einen Fuchs abhäuten oder eine Renkeule braten, und immer ist einer, der sagt: Halt! Das darfst du nicht!«
»Ich
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