Liebesnächte in der Taiga
schießen«, flüsterte Semjonow Ludmilla zu, die unter dem Berg von Decken lag und mit dem Gewehr an der Wange wartete. »Es sind keine Soldaten. Sie hätten längst geschossen. Laß ihn herankommen und rühr dich nicht …«
Zwischen den Bäumen knirschte der Schnee. Dann flog etwas durch die eisige Luft – eine Fellmütze. Sie fiel mit dumpfem Laut neben eines der Feuer und schwamm in einer Lache geschmolzenen Eises.
»Was soll das, Brüderchen?« fragte Semjonow, als nach dem Mützenwurf niemand zwischen den Stämmen hervorkam.
»Es ist gut. Du bist allein!« sagte die tiefe Stimme. »Hättest du noch einen bei dir, so würde er sich jetzt verraten haben. Gott grüße dich, Bruder!«
»Christus sei mit dir!« antwortete Semjonow.
Aus der Dunkelheit löste sich ein großer Schatten. Eine mit Fellen und Pelzen bekleidete Säule stapfte aus dem Wald zu dem Schlitten. Dort, wo man den Kopf vermutete, war ein wildes Gestrüpp vereister Barthaare.
Semjonow ließ die Hände sinken, die er noch immer erhoben gehalten hatte. Er ging dem Unbekannten entgegen bis zum Feuer. Aber da rührte sich Ludmilla, warf die Decken ab und sprang auf, das Gewehr im Anschlag.
Ein dumpfer Schrei wehte Semjonow an. Dann fühlte er sich gepackt und über das Feuer gerissen. Es war ihm, als spanne man seinen Körper in einen Schraubstock und drehe nun die Backen zu, bis Knochen und Gedärme durch die geplatzte Haut spritzten.
»Laß ihn los!« hörte er den hellen Schrei Ludmillas. »Laß ihn los, du Untier!«
Semjonow stand wieder auf der Erde. Auf seine Brust war das Gewehr Ludmillas gerichtet. Er war zum Schild des Fellriesen geworden.
»So überlistet man Jurij Fjodorowitsch nicht!« hörte er die tiefe, dröhnende Stimme über sich. »So nicht, mein Wölflein! Nun schieß, mein schwarzes Engelchen … Wenn du ihn durchlöchert hast, werfe ich ihn dir an den Kopf!«
Ludmilla ließ das Gewehr sinken.
»Lassen Sie Pawluscha los … bitte«, sagte sie mit merkwürdig kläglicher Stimme. »Sie haben uns das Leben gerettet … Er ist mein Mann … Wir sind friedliche Leute … Wir suchen bloß eine neue Heimat … nichts weiter. Wir sind auf dem Weg zu einem unbekannten Paradies …«
Der Griff um Semjonows Körper lockerte sich. Dann ließ er völlig nach. Semjonow fiel in sich zusammen und sank in den Schnee. Es war ihm, als habe er keine Knochen mehr.
7
»Was tust du mit ihm? He? Du hast ihm die Knochen gebrochen, du Untier!« schrie Ludmilla, als sie Semjonow im Schnee liegen sah, bewegungslos und hilflos. Sie griff wieder nach dem Gewehr, bückte sich, aber der Fellriese lachte dröhnend und stellte sich breitbeinig über den schlaffen Körper Semjonows.
»Welch eine giftige Kröte du bist!« sagte er gemütlich. »Leg dein Gewehrchen hin, Töchterchen. Ein wenig benommen ist er, dein lieber Pawluscha. Laß ihm ein paar Minuten Zeit, und er wird sich wieder besinnen.« Der Riese beugte sich über Semjonow, sah ihm in die Augen, lachte wieder und schob die dichte Pelzkapuze von seinem Schädel. O Himmel, welch einen Kopf hatte er! Unförmig und doch rund, gelbliche Haut und geschlitzte Augen, und die Haarberge waren grau, als seien sie vereist oder mit Schneestaub eingerieben worden.
Ludmilla kniete neben Semjonow im Schnee nieder und nahm seinen Kopf in ihren Schoß. Sein Mund zuckte, und seine Augen suchten immer wieder die turmartige Gestalt in dem Fellmantel. Es war, als begreife er gar nicht, daß ein Mensch so stark sein könne.
»Hat er dir weh getan, Pawluscha?« fragte Ludmilla und streichelte sein Gesicht. Sie küßte und herzte ihn, tastete über seine Gliedmaßen und bewegte seine Arme, seine Handgelenke, die Beine in den langen Pelzstiefeln. »Fühlst du dich elend, mein Liebster? Was hat er dir getan, dieser Auerochse?«
»Ich begreife das nicht.« Semjonow richtete sich auf und saß nun im Schnee. »Mann, wie groß bist du?« fragte er den Riesen. Er starrte auf die Füße in den Fellstiefeln und rechnete sich aus, daß bei solchen Füßen der übrige Körper nach menschlichen Maßen nicht mehr meßbar war. Dann umarmte er Ludmilla und nickte ihr beruhigend zu. »Es war nur die Verwunderung, Täubchen. Noch niemand hat es fertigbekommen, mich auf den Boden zu legen. Er ist der erste. Alles haben wir durchtrainiert, alles. In Kalifornien wurden wir riesigen Negern gegenübergestellt und wußten: die kennen keine Gnade. Und wir hatten unsere Griffe und legten sie auf den Rücken. Aber dieser hier …
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