Liebesnächte in der Taiga
schwieg. Sie starrte in den fahlen Abendhimmel, und ihre Gedanken waren weit weg, nicht mehr in Nowa Swesda, in der Taiga oder in Krasnojarsk, sondern in einem Haus am Rand eines Sonnenblumenfeldes. Ihre Mutter saß an dem gescheuerten Tisch, und eine alte Frau schlug die Karten und zählte aus und mischte und legte wieder an und nickte und sagte endlich: »Bei Christus, Olga Gordejeffa … das ist eine böse Karte. Die Kleine, deine Ludmilla, wird einmal einen bösen Tod haben. Paß auf sie auf, Olga Gordejeffa … ich kann nicht aus den Karten sehen, wann es sein wird …«
Ein böser Tod … o Mutter Gottes, laß ihn schnell herbeikommen. Am nächsten starken, vereisten Baum, wenn der Hirsch versuchen wird, mich von seinem Rücken abzustreifen.
Semjonow wehrte sich bis zuletzt. Drei Männer mußten ihn festhalten, als die Weiber ihn festbanden. Dann lag auch er gekreuzigt auf dem Hirschrücken, unbeweglich, Arme und Beine seitlich heruntergeschnallt. Sie würden die ersten sein, die zerfetzt wurden, stückweise abgeschabt an den stahlharten vereisten Baumstämmen. So würde er qualvoll Zentimeter um Zentimeter sterben, von Baum zu Baum, durch rasiermesserscharfe Rinde, bis der Hirsch, selbst wahnsinnig geworden, sich irgendwo in einen Hohlweg stürzen und auf dem Eis wälzen würde und den Körper auf seinem Rücken in einen blutigen Brei verwandelte.
»Das ist alles ein Irrtum, Vater Uman!« schrie Semjonow, als er festgebunden war. »Hört mich doch an! Ich bin ein Deutscher! Ein Germanskij! Ich liebe euer Land, ich bin mit dem Herzen bei euch, ich hasse den Bolschewismus, ich … ich … Glaubt mir doch, es ist alles ein Irrtum!«
Uman, der Alte, schüttelte den Kopf. »Er phantasiert bereits vor Angst!« sagte er verächtlich. »Ein Germanskij! Man sollte ausspucken vor ihm, Freunde! Gebt den Tieren die Sporen!«
Alle traten zurück. Ganz still war es jetzt, nur der Atemdampf wehte über Hirsche und gebundene Leiber. Urmütterchen Marussja bekreuzigte sich fromm und betete.
O Madonna, erkenne unser Recht, solches zu tun …
»Wartet, Freunde! Es ist Mord, was ihr tut! Mord! Wir sind ohne Falsch … glaubt es uns doch!«
»Das Messer!« sagte Uman stolz.
Jemand reichte ihm einen langen gebogenen Dolch. Vier Männer hielten die Hirsche an den breiten Geweihen fest, drückten ihre Köpfe herunter, machten sie wehrlos. Durch die wartende Menge flog ein tiefes Atmen.
Uman trat an die Hirsche heran. Die Schneide des Dolches blitzte auf, und dann stach er die Tiere tief in die Weichen, jedem Hirsch dreimal. Die Tiere schrien auf, versuchten die Köpfe zu heben, ihre Beine zertrampelten den Schnee, aber die Männer hielten sie am Geweih fest und lagen fast auf ihren Köpfen.
»Los, Brüderchen!« schrie Uman.
Die Männer warfen sich zurück. Mit einem dumpfen Aufbrüllen schnellten die Hirschköpfe hoch, die Geweihe forkelten durch die eisige Luft, und dann jagten sie los, irrsinnig vor Schmerz, wild von der fremden Last auf ihren Rücken. Sie sprangen in weiten Sätzen in den Wald, der Schnee wirbelte in Wolken unter ihren Hufen auf, und noch eine Zeitlang, nachdem sie längst zwischen den Stämmen verschwunden waren, hörte man aus der Tiefe des Waldes die schmerzerfüllten Schreie der gequälten Tiere.
»Gott sei mit ihren Seelen!« sagte das Urmütterchen Marussja und bekreuzigte sich wieder. »Mögen sie schnell sterben …«
Dann ging sie zurück, holte ihren Korb und schlurfte damit zum gemeinschaftlichen Backhaus.
Das Brot, das schöne weiße, lockere Brot, mußte noch gebacken werden.
ZWEITES BUCH
8
Oberst Matweij Nikiforowitsch Karpuschin war nach Moskau zurückgeflogen. Er kam mit leeren Händen, aber vielen Worten und langen Berichten, besprach sich mit General Chimkassy vom GRU, erkannte die Schadenfreude in den Augen des anderen, verfluchte ihn im stillen und nannte ihn einen viergeschwänzten Satan. Dann berichtete er Marschall Malinowskij über die Aktion in Kusmowka und Komssa und schloß mit den Worten: »Genosse Marschall, um es klar zu sagen: Man hat uns überlistet! Aber wer denkt auch daran, daß eine russische Kommissarin und ein Deutscher … Es ist ausgesprochen verwerflich!«
Marschall Malinowskij tobte diesmal nicht. Wo es keinen Sinn hatte, blieb er kalt und ausdruckslos wie eine Sphinx. Sein Gesicht glich einem Granitstein; die eisgrauen Haare darüber sahen wie Reif aus. »Es ist gut, Oberst«, sagte er mit gleichgültiger Stimme. »Wir müssen von jetzt an besonders
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