Liebesnächte in der Taiga
»Herrliches kaltes Wasser. Es war so heiß im Zimmer, ganz mit Schweiß war ich bedeckt.«
»Laß fühlen …«
Er trat an das Bett, und Ludmillas kleine Hände streichelten über seinen Körper.
»Ganz kühl bist du, Pawluscha«, sagte sie und küßte ihn auf den Bauch. »Du bist so schrecklich frisch und wach und ich so müde …«
Semjonow lächelte schwach. Er legte sich neben seine Frau, nahm sie in seine Arme, streichelte sie und starrte über ihre schwarzen seidigen Haare gegen das Viereck des Fensters, vor dem die mondhelle Sommernacht stand.
Zum erstenmal verschwieg Semjonow seiner Frau die Wahrheit. Solange sie die Chance hatten, in ein unbekanntes Leben zu flüchten, gab es keine Geheimnisse zwischen ihnen. Nun aber, an der Schwelle von Tod oder Weiterleben, erschien es ihm grausam, Ludmilla zu sagen, wie es um sie stand.
Er wartete, bis sie wieder eingeschlafen war, dann kroch er langsam, Zentimeter um Zentimeter, aus ihrer Umarmung und von ihr weg aus dem Bett, stellte sich an das Fenster und beobachtete den prächtigsten Sonnenaufgang seines Lebens.
Der Himmel brannte, die Lärchenwälder der Taiga leuchteten, die Häuser glühten, über Dächer, Straßen, Bäume, Tiere und Menschen kroch der Brand aus dem Unendlichen. Dann wurde alles orangefarben, gelblich streifig und schließlich golden, und die Sonne schob sich über die Taiga und brachte einen neuen Tag voller Hitze und Staub, Mücken und Flimmerdunst … und doch taute der Boden nur zehn Zentimeter auf und blieb in der Tiefe gefroren.
Unbeweglich stand Semjonow am Fenster und sah in den neuen Tag. Der letzte Tag.
Vier Türen weiter stand auch Bradcock am Fenster und erlebte den Sonnenaufgang. Die gleichen Gedanken hatte er und das gleiche schwere Herz wie Semjonow.
Irgendwo im Hause klingelte es.
Die Stationen erwachten. Militärische Pünktlichkeit war das erste, was die sechs neuen Ärzte eingeführt hatten.
Bradcock wandte sich ins Zimmer zurück. Vier Türen weiter tat Semjonow das gleiche.
Der neue Tag begann.
Und noch einmal küßten die Männer ihre Frauen und zwangen sich, in den weichen Armen die Wahrheit zu vergessen.
Am Nachmittag änderte sich plötzlich das Wetter. Von Süden trieben Wolken heran; der blaue Himmel wurde streifig und dann fahl und gelb.
Semjonow und Bradcock hatten sich heimlich außerhalb der Stadt getroffen, wo der Wald begann und die Holzeinschlagstraßen in der Einsamkeit endeten. Für Bradcock war es leichter gewesen, wegzukommen, als für Semjonow.
Bradcock wartete schon am verabredeten Platz, als Semjonow auf einem struppigen Pferdchen, das zum Krankenhaus gehörte und im Winter den Schlitten der Kirstaskaja zog, heranritt. Er hatte einen langen Gegenstand vor sich auf dem Sattel liegen, und als er abstieg, sah Bradcock, daß es ein in Decken gehülltes Paket war. Es hatte eine Form, die ihm sehr bekannt vorkam.
»Was hast du da mitgebracht?« fragte er, nachdem sie sich wie alte Freunde begrüßt hatten.
»Zwei Gewehre. Tokarev M 1940. Weißt du, wie wir daran ausgebildet wurden? Wenn unsere Knarren im Schlamm gelegen hatten, konntest du sie an die Wand werfen, aber die Tokarevs, die schossen, als seien sie geölt.« Semjonow hob das Paket von dem hellbraunen, struppigen Pferdchen und legte es auf den Waldboden. »Wir waren immer für faires Spiel, James. Gleiche Waffen – gleiche Chancen. Einverstanden?«
»Okay, alter Junge.« Bradcock kniete nieder und wickelte die Gewehre aus der Decke. Er nahm eins an die Wange, zielte in den fahlen Himmel und nickte. »Ich habe einmal mit einem solchen Gewehr fünfmal hintereinander eine Zwölf geschossen, weißt du noch?«
»Und ob. Darauf hast du einen ausgegeben, und unsere Gruppe war am Abend stinkbesoffen. Drei Tage Strafexerzieren war die Quittung.«
»Junge, war das eine herrliche Zeit!« sagte Bradcock leise.
»Ja, James. Ich bin froh, daß wir das gemeinsam erlebt haben.« Semjonow nahm sein Gewehr vom Boden und schob seinen Munitionsrahmen in das Magazin. Es klickte metallen und gefährlich.
So lacht der Tod, dachte Bradcock und schüttelte sich. »Damit sollen wir uns also umbringen?« fragte er gepreßt.
Semjonow klemmte sein Gewehr unter den Arm. »Wie hast du dir denn gedacht, mich umzubringen?«
»Ich weiß nicht.« Bradcock hob die Schultern. Auch er lud seine Tokarev und sicherte sie. »Es wäre mir unmöglich gewesen, dich einfach nach Chicagoer Art umzulegen. Vielleicht hätte ich einen Streit mit dir angefangen, mich
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