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Liebesnächte in der Taiga

Liebesnächte in der Taiga

Titel: Liebesnächte in der Taiga Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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den schützenden Stämmen schwankte Bradcock hervor. Das Gewehr lag auf seiner umwickelten linken Hand, mit der rechten umklammerte er den Abzugshebel. Blut rann ihm aus einer Kopfwunde über das Gesicht, und vergeblich versuchte er, es mit der Schulter und dem Oberarm abzuwischen. Ein starker, durch die Luft gewirbelter Ast mußte ihn getroffen haben. Aus den Haaren heraus strömte das Blut.
    Semjonow sprang auf. Bradcock sah ihn, er zuckte zusammen und hob die Tokarev. Auch Semjonow legte an … Gott, verzeih mir, dachte er. O Gott, verzeih mir … Du hast mir die Hölle vorweggenommen!
    Aber keiner schoß. Mit angelegten Gewehren standen sie sich gegenüber, nur dreißig Meter getrennt, die Finger am Abzug, den Kopf des anderen im Visier. Nur eine leichte Krümmung des Fingers, nur ein Durchziehen des Druckpunktes … So einfach ist es, einen Menschen zu töten, einen Freund zu verlieren.
    Ich kann es nicht, dachte Semjonow. Er schloß die Augen und ließ sein Gewehr sinken. Nun schieß, James, und während er es dachte, wurde ihm heiß ums Herz. Ich liebe dich, Ludmilluschka …
    James Bradcock senkte den Kopf. Fast zur gleichen Zeit dachte auch er: Ich kann es nicht! Pfeif der Teufel auf die Politik, ich krieg's nicht fertig! Er warf das Gewehr auf den Moosboden und schloß ebenfalls die Augen.
    Schieß, alter Junge … Seine Kehle schnürte sich zu. Schieß! Wenn du wirklich ein ganzer Russe geworden bist, dann kennst du jetzt kein Zögern … Eines nehme ich mit in die Ewigkeit: Wir sind betrogen worden! Du und ich! Und das wird nie aufhören, mein Junge. Es wird immer Schafe geben, die ihrem Schlächter noch die Hand lecken …
    Semjonow sah auf. Bradcock stand auf der Lichtung. Das Gewehr lag vor ihm auf dem Boden. Die Arme hingen herab, der Kopf war gesenkt. Das Bild eines Hingerichteten.
    »James«, stammelte Semjonow, und seine Augen wurden feucht und brannten. »Alter James …«
    Und dann schrie er auf, grell und tierhaft. Er warf die Arme hoch in die Luft und stand wie gelähmt vor dem, was sich vor seinen Augen vollzog.
    Die Faust des Sturmes schlug hinter Bradcock in den Wald. Sie drehte den Baum hinter ihm aus der Erde, es knirschte ohrenzerreißend, das Holz schrie auf und stemmte sich gegen das Siegesgeheul des Windes. Dann fiel der große Baum zur Erde, senkte sich über Bradcock, überschattete mit seinem Ästedach den kleinen, hilflosen Menschen.
    »James!« brüllte Semjonow. »James, zur Seite!«
    Bradcock erwachte aus seiner Erstarrung. Er wandte den Kopf, sah den fallenden Baum und hetzte mit ein paar Sprüngen von der Lichtung.
    »Nach links!« schrie Semjonow. »Nach links!«
    Der heulende Wind verwehte seine Stimme. Bradcock stolperte, im Fallen noch warf er sich zur Seite, überkugelte sich, kroch weiter. Zwei Meter neben ihm krachte der Stamm auf den Boden und federte zitternd auf und nieder.
    »Oh!« schrie Bradcock. »Oh!«
    Eine feurige Faust schlug gegen seinen Rücken und riß ihn auf wie mit tausend Widerhaken. Einer der oberschenkeldicken Äste, hart und an den Bruchstellen der kleinen Äste scharf wie eine Lanze, schlug in seinen Rücken, zerfetzte ihn, wippte wie der Stamm auf und nieder und riß dabei immer neue Fleischstücke aus ihm heraus, wie ein Hai, der sein Opfer mit jedem Biß mehr zerreißt.
    Schreiend kam Semjonow herbeigerannt. Er zog Bradcock unter dem Ast hervor, schleifte ihn auf die Lichtung und riß ihm die zerfetzte Kleidung vom Körper.
    Die Rückenwunde war fürchterlich. Das Rückgrat lag bloß, und zwischen den Fleischfetzen quoll eine blutiggraue, poröse Masse hervor. Die Lunge.
    Semjonow sah Bradcock noch einmal an. Dann rannte er zurück zu dem struppigen Pferdchen, das zitternd hinter einem dicken Stamm angebunden stand, warf sich in den Sattel und ritt wie der Teufel zur Stadt zurück.
    Eine halbe Stunde später lag Bradcock auf dem Operationstisch des Krankenhauses von Oleneksskaja Kultbasa. Drei Ärzte operierten. In ihrem Zimmer lag die Kirstaskaja auf dem Sofa und weinte und schrie und mußte festgehalten werden, damit sie nicht in den OP rannte.
    Bradcock starb nach einer Stunde. Die Kirstaskaja saß an seinem Bett, hielt seine Hand, küßte seine farblosen Lippen und rief ihn immer wieder an, als könne er sie noch hören.
    Semjonow sah sich um. Sie waren allein im Zimmer, er, Ludmilla, Katharina und der tote Bradcock.
    »Sie haben ihn geliebt, Katharina? Wirklich geliebt, nicht wahr«, sagte er und versuchte, sie von der Leiche wegzuziehen.

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