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Liebesnächte in der Taiga

Liebesnächte in der Taiga

Titel: Liebesnächte in der Taiga Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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die Position erreicht hat. Von diesem Schuß an sind wir Jäger. Der Weg führt nach hier, zur Lichtung, zurück. Ob im Kreis, ob in gerader Linie, das steht jedem frei. Ist das klar, Brüderchen?«
    Bradcock nickte verbissen. »Ja«, sagte er auf englisch. »Mit anderen Worten: Wir jagen uns.«
    Semjonow gab Bradcock die Hand. »Leb wohl, James«, sagte er leise. »Es ist ein Irrsinn, daß zwei Menschen wie wir so leben und so sterben müssen.«
    »Mach's gut, alter Junge.« Bradcocks Adamsapfel zuckte. Er war sichtlich ergriffen und bezwang sich, Semjonow nicht zu umarmen. »Wenn's mich erwischt … schreib meiner Mutter. Die Adresse kennst du ja. Sie ist jetzt neunundsiebzig Jahre alt. Schreib ihr, ich sei verunglückt … sag ihr eine fromme Lüge.«
    Semjonow nickte. »Verwundungen werden nicht gewertet, James. Ist jemand angeschossen …«
    »Ich weiß. Fangschuß.« Bradcock warf sein Gewehr über die Schulter. »Also vierhundert Schritte …«
    »Vom Waldrand aus …«
    Ohne sich noch einmal anzusehen, gingen sie in entgegengesetzter Richtung in den Wald hinein. Sie zählten leise ihre Schritte … zweihundert … zweihundertfünfzig … dreihundert … Die letzten dreißig Schritte waren die schwersten. Sie waren wie die Stufen zu einem Galgen.
    Vierhundert. Semjonow blieb stehen, hob sein Gewehr und schoß in die Luft. Kurz darauf antwortete Bradcock. Im Rauschen des Sturmes klang der Schuß dünn und unendlich entfernt.
    Semjonow wartete eine Sekunde, dann ging er langsam den Weg zurück, den er gekommen war. Er gab sich keine Mühe, anzuschleichen, wie sie es in Alaska und New Mexico geübt hatten, er suchte keine Deckung oder kroch durch Farne und Unterholz, er tarnte sich weder mit Gras und Buschzweigen, noch paßte er sich dem Waldboden an. Hoch aufgerichtet, die Tokarev in den Händen, schritt er durch den Wald zur Lichtung zurück, ein Bär, der weiß, daß die Taiga ihm gehört. Aber er zählte beim Gehen seine Schritte, und während er ging, dachte er nicht an Bradcock, sondern an Ludmilla und das Kind und an den Frieden, den er sich jetzt mit Blut erobern wollte.
    Noch hundert Schritte. Semjonow glitt auf den Boden, faßte das Gewehr vorn am Lauf und zog es neben sich her, während er zur Lichtung weiterkroch.
    Der Sturm hatte nun ihr Gebiet erreicht. Die Bäume ächzten unter der Hebelkraft des Windes. Armdicke Zweige wirbelten durch die Luft wie Federn, getrocknetes Moos tanzte auf der Lichtung Ringelreihen; und wo die Flechten den harten Boden bedeckten, hatten sich Strudel gebildet und drehten die Wurzeln aus der Erde.
    Semjonow kroch an den Waldrand heran. Der Sturm fiel heulend über ihn her, drückte ihn zu Boden, zerrte an seiner Kleidung, kämpfte mit ihm und versuchte, ihn gleich den Ästen durch die Luft zu wirbeln. Semjonow krallte sich an einem Baumstumpf fest, kroch dahinter, zog das Gewehr nach und spähte über die Lichtung zur anderen Seite, von der jetzt Bradcock kommen mußte. Es konnte sein, daß er einen Bogen gemacht hatte oder gar von hinten kam. Das Heulen des Sturmes, das Knarren und Ächzen der Bäume, das peitschende Knallen der gegen die Stämme geschleuderten fliegenden Äste verhinderten jegliche Aufmerksamkeit. Es gab nur eines: sich auf den Boden legen, den Kopf einziehen, die Arme über den Nacken legen und beten, daß die unermeßliche Faust des Sturmes einen verschonte.
    Als Semjonow den Baumstumpf nahe dem Waldrand erreicht hatte und sich hinter ihm ausstreckte, sah er gegenüber der Lichtung einen Schatten. Ein Gleiten war es, ein Schimmer nur zwischen den Stämmen. Semjonow lächelte schmerzlich. Er macht es wie in den Rocky Mountains, dachte er. Von Stamm zu Stamm springen, immer im Zickzack, nie ein festes Ziel geben. Dann wieder auf den Boden, wie eine Schlange kriechend, ganz flach, das Gesäß eingezogen, zur Seite, in eine Richtung, die keiner ahnt, und dann wieder von Stamm zu Stamm, nach vorn geduckt, ein huschender Schemen. Indianerart.
    Semjonow wartete, das Gewehr im Anschlag. Noch dreimal sah er den Schatten zwischen den Stämmen, und er hätte schießen können. Wer ein pfeilschnell jagendes Wieselchen schießt, kann auch einen Menschen treffen. Der gute alte Jurij Fjodorowitsch Jesseij aus Nowa Swesda hatte es mit ihm geübt. Selbst einen Nerz, der von Baum zu Baum springt, hatte er im Flug zu treffen gelernt.
    Aber Semjonow schoß nicht, er wartete. Und dann ging alles sehr schnell, so schnell, wie der Wirbelsturm über den Wald raste. Zwischen

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