Liebesnaehe
über und öffnet den Kragen des darunter getragenen weißen Hemdes weit. Er trägt eine dunkelbraune Cordhose und schwarze Schuhe, er fühlt sich jetzt »herbstlich« gekleidet, und in dieser herbstlichen Kleidung verlässt er sein Zimmer und geht den Hotelflur entlang, hinüber zum Aufzug.
Er muss eine Weile warten, dieser Aufzug bewegt sich
unglaublich langsam, er erinnert sich jetzt daran, denn schon während seines vorigen Aufenthalts hat er sich über das Tempo dieses Aufzugs gewundert, dessen Fahrbewegung man in seinem Innern nicht einmal wahrnimmt. Endlich öffnet sich aber doch die Tür, und er schaut kurz auf. Dicht vor der Rückwand der ringsum mit Spiegeln gesäumten kleinen Kabine steht eine Frau in einem langen schwarzen Kleid. Sie zuckt kurz zusammen, während er eintritt, sie stehen sich jetzt dicht und direkt gegenüber, und er wendet den Blick kurz zur Seite, um zu überprüfen, ob die Taste des Erdgeschosses auch aufleuchtet.
Ja, die Taste leuchtet auf, und hinter ihm schließt sich jetzt die Tür, so dass er noch einen kleinen Schritt näher an die schwarz gekleidete Frau herantritt. Sie schaut ihn nicht an, sie blickt zu Boden, er aber kann den Blick nicht von ihr abwenden, denn er begreift sofort, dass es sich bei dieser Frau um die Schwimmerin handelt, die er vor Kurzem noch beim Schwimmen im Hotelpool beobachtet hat.
Sie hat eine breite, schöne Stirn, ihre blonden Haare gehen an den Spitzen leicht ins Rötliche über. Sie scheint ein wenig zu schwitzen, denn zwischen den Haaransätzen erkennt er einen schwachen Film minimaler, leuchtender Schweißperlen. Sie hat die Haare streng nach hinten gekämmt, so dass die Stirn frei ist und die Ohren das dichte Haar wie zwei hellrote Spangen rahmen. Von der Nasenwurzel aus verteilen sich einige Sommersprossen über die oberen Backenknochen, sie wirken wie künstliche Tupfer, als habe sie diese Tupfer ganz bewusst in bestimmten Abständen platziert, um in den sonst ausdrucksarmen Partien des Gesichts ein paar Akzente zu setzen.
Ihre Augenbrauen und die Augenwimpern sind dunkelblond und verdecken ihre Augen, er gäbe etwas darum, in diese Augen schauen zu können, aber das ist nicht möglich, denn sie blickt, während sich der Aufzug unmerklich bewegt, weiter starr nach unten. Er aber schaut sie ununterbrochen an, er erlaubt es sich, weil sie es anscheinend nicht mitbekommt, er schaut auf ihre breiten, mit dunkelrotem Lippenstift nachgezogenen Lippen, und er bemerkt schließlich ihre großen Hände, eng anliegend zu beiden Seiten des Kleides.
Er genießt diese langen Sekunden sehr, es stört ihn nur, dass er diese Frau nicht berühren kann, denn es drängt ihn, sie genau jetzt mit einer kleinen Geste näher an sich heranzubitten. Er glaubt sogar zu spüren, dass sie ein Paar sind, es ist seltsam und beinahe unglaublich, aber er spürt es sehr direkt, und es ist, als würden nicht nur ihre Körper, sondern auch ihre Empfindungen aufeinander reagieren.
Entsteht nicht bereits eine Verbindung zwischen ihnen beiden und bewegen sich ihre Körper nicht unmerklich aufeinander zu? Ja, genau dieses Gefühl hat er, es ist wie eine Art feiner Sog, als löste sich der eigene Körper wie der Inhalt eines auslaufenden Gefäßes im Körper des Gegenübers auf. Dieses Gefühl verwirrt ihn aber sofort, er will seine Gedanken ordnen und der Sache rasch auf den Grund gehen, dafür ist jetzt aber keine Zeit, denn die Tür des Aufzugs öffnet sich nun im Erdgeschoss, und er muss sich zum Ausgang hin umdrehen, damit er den Aufzug verlassen kann.
Zum Glück fällt ihm ein, dass er ihr den Vortritt lassen könnte, er macht also eine kurze Bewegung zur Seite und deutet mit der rechten Hand an, dass sie den Aufzug vor ihm verlassen soll, da schaut sie zum ersten Mal auf, sie schaut ihn an, und er erkennt jetzt ihr offenes, bestimmtes Gesicht. Genauso hatte er es sich vorgestellt: ein freies, zur Ruhe gekommenes Gesicht ohne alle Spuren von falscher Eile und Eitelkeit.
Sie schauen sich beide einen Moment lang an, und es kostet ihn starke Überwindung, sie jetzt nicht einfach an der Hand zu nehmen, es wäre doch so einfach und richtig, genau das jetzt zu tun. Sie sind etwa gleich groß, sie würden gut zueinander passen, langsam nebeneinander hergehend, sich leise unterhaltend … – so denkt er und ist zugleich irritiert darüber, was ihm da durch den Kopf geht.
Sie lächelt einen sehr kurzen Moment und nickt dann, als wollte sie sich für den gewährten Vortritt
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