Liebesnaehe
die Schlucht, sie trocknet sich gerade die Haare und schwingt sie zwischendurch heftig nach links und rechts. Dann reibt sie sich mit dem Handtuch sehr gründlich ab und schlüpft in den Bademantel. Gleich wird sie ihre Sachen zusammenpacken und den schmalen Pfad hinaufkommen.
Er atmet aus, dann steht er auf, steckt den gefalteten Zettel noch etwas tiefer in die Holzspalte und verschwindet, um die Sache wirklich ganz dem Zufall zu überlassen.
5
IM BAD ihres Hotelzimmers öffnet sie ihre Sporttasche und greift nach den nassen Handtüchern. Sie breitet sie über dem Rand der Badewanne aus, entledigt sich ihres Bademantels und streift dann ihren Badeanzug ab, den sie neben die Handtücher legt. Einen langen Moment schaut sie in den großen Spiegel, sie steht jetzt nackt da, eine schlanke, durchtrainierte Frau, müde und etwas kraftlos geworden vom schnellen Schwimmen. Sie tritt näher an den Spiegel heran und streicht sich mit zwei Fingern über die dunklen Ringe unter den Augen, dann holt sie eine Hautcreme hervor und maskiert das Gesicht mit einem dünnen weißen Film, der schon kurz nach dem Auftragen seinen Glanz verliert und matter wird.
Sie geht hinüber in den Wohnbereich und drückt kurz auf die Wiedergabe-Taste ihres Aufnahmegeräts, dann legt sie sich mit dem Rücken auf das breite Bett. Sie schließt die Augen und hört nun plötzlich die Naturmusik ihrer Ankunft vor kaum zwei Stunden, sie hört das Knistern und Flirren des Lichts, als wären die Sonnenstrahlen Musik geworden, und sie hört das regelmäßige Atmen eines sehr schwachen Windes wie ein kindliches, feines Pusten.
Wer ist diese Schwimmerin? – die seltsame Frage geht ihr nicht aus dem Kopf. Seit sie den kleinen weißen Zettel, der wie eine winzige Flagge aus dem Spalt einer Holzbank direkt auf ihrem Weg herausragte, gefunden hat, denkt sie ununterbrochen über diese Zeile nach. Stammt
er von einem Voyeur, der sie beobachtet und jeden ihrer Schritte verfolgt? Oder steckt etwas Harmloseres dahinter? Jedenfalls glaubt sie sicher zu wissen, dass ein Mann diese Frage notiert hat, sie hat die bestimmte, ruhige und graphisch sehr ausdrucksstarke Handschrift dauernd vor Augen und bringt sie mit einem Mann in Verbindung, mit einem Mann, der allein ist …, mit einem Mann, der sich die Zeit genommen hat, sie aufmerksam und in aller Ruhe beim Schwimmen zu beobachten … – so treiben ihre Gedanken und bekommen nichts Konkretes zu fassen.
Sie kann von ihnen aber nicht loslassen, denn diese ersten Bilder eines noch fernen Fremden wecken eine gewisse Sehnsucht in ihr, sie spürt diese Sehnsucht genau, es ist die Sehnsucht nach einer starken, wohltuenden, fast brüderlichen Nähe, die Sehnsucht nach einem Menschen, mit dem zusammen man auf diesem Bett liegen könnte, ohne in irgendwelche Problemdebatten verwickelt zu sein. Diese Gedanken und Bilder beherrschen sie so stark, dass sie ihre stärker werdende Müdigkeit überlagern. Normalerweise wäre sie jetzt vielleicht für einige Minuten eingeschlafen und hätte sich so von ihrem anstrengenden Schwimmen erholt, nun aber wird sie von Minute zu Minute wacher, die Wachheit kriecht unter dem Müdigkeitsmantel ihres Körpers hervor und macht sie etwas unruhig.
Als die Naturmusik beendet und in ein monotones, stumpfes Rauschen übergegangen ist, steht sie auf und schaltet das Aufnahmegerät aus. Sie schaut nach, ob in der im Kleiderschrank versteckten Minibar eine kleine Flasche Sekt für sie bereitsteht, und als sie eine dunkelgrüne,
gut gekühlte Flasche findet, öffnet sie rasch den Verschluss und gießt den gesamten Inhalt in das große Wasserglas auf ihrem Schreibtisch.
Sie mag kleine, schmale Sektgläser nicht, sie mag höchstens Sektkelche, häufig trinkt sie den Sekt aber auch aus großen Gläsern, so wie jetzt, als wäre Sekt gar nichts Besonderes, sondern ein ganz normales Getränk, das sie jetzt einfach braucht, um den Durst etwas zu stillen. Überhaupt kann sie mit all der Feierlichkeit, die das Trinken von Champagner, Sekt oder Wein begleitet, nichts anfangen, sie hasst all dieses Getue, das Anheben eines Glases, das Zuprosten, das Zurschaustellen des Genusses.
Ein Genuss, den man zur Schau stellt, verliert doch sofort an Wirkung, Genuss stellt man niemals zur Schau, der reichste Genuss ist der vollkommen stille Genuss, still und selbstverständlich und zu einem gehörig wie eine bestimmte Musik – das alles geht ihr jetzt durch den Kopf, und sie erwischt sich dabei, dass sie wieder an
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