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Liebesnaehe

Liebesnaehe

Titel: Liebesnaehe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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den fernen Fremden denkt, dem sie gerne erzählen würde, was ihr gerade durch den Kopf geht. Warum aber denkt sie immer wieder an ihn? Was lässt sie eine solch starke Nähe zu einem Unbekannten empfinden, angesichts einiger weniger, flüchtig auf ein Notizblatt gekritzelter Worte?

    Sie geht wieder ins Bad und zieht den Bademantel über, dann setzt sie sich an den Schreibtisch und trinkt das Glas Sekt gleich zur Hälfte leer. Sie glaubt zu spüren, wie der kräftige Schluck durch den ganzen Körper rauscht, so hellwach macht er sie. Sie greift nach der hoteleigenen Schreibmappe, öffnet sie und lächelt ein wenig, als sie die vielen Bögen Briefpapier, die Briefumschläge und den
Block mit den Notizzetteln erkennt, alle in einem matten Hellgrau mit dem Namen des Hotels versehen.
    In Hotels regen diese Papiermengen sie immer an, etwas zu notieren, ja sie ist geradezu versessen darauf, diese schönen Bögen vollzuschreiben. Eigens dafür hat sie immer mehrere Stifte mit sehr feinen Minen in den verschiedensten Farben dabei. An jedem Tag ihres Aufenthalts lässt sie sich neue Lagen Briefpapier aufs Zimmer bringen, und häufig schickt sie ihre Hotel-Aufzeichnungen dann an ihre eigene Adresse, nach München. Sie besitzt eine große Sammlung solcher Aufzeichnungen aus den verschiedensten Ländern der Erde, hellgrüne, dünne Briefumschläge aus London, ockergelbe, dick gefütterte aus Indien, gelbweiße mit dem päpstlichen Wappen aus Rom, im oberen rechten Eck leuchten die kleinen Briefmarkengemälde, und ihre Schrift gefällt ihr, wie sie da ihren eigenen Namen und ihre Münchener Adresse fixiert hat.

    Sie nimmt einen Fineliner aus ihrer Tasche, legt eine Seite des Briefpapiers vor sich hin und notiert jeweils auf Mitte:
    Wann und warum ich gern Sekt trinke

    Ich trinke Sekt gern zur Begrüßung – um einen Ort zu
begrüßen oder um mich selbst an diesem Ort zu begrüßen.
Ich trinke Sekt gern allein, in kleinen Mengen.
Ich trinke Sekt gern am späten Vormittag oder am frühen
Abend, kurz vor einer größeren Mahlzeit.
Ich trinke Sekt fast niemals zu Haus, sondern meist nur
»auswärts«, wenn ich irgendwo »ankommen« möchte.

    Während ihres letzten Aufenthaltes in diesem Hotel hat Katharina, die Buchhändlerin, ihr ein kleines Buch mit einem alten japanischen Text aus dem elften Jahrhundert geschenkt. Es war das Tagebuch einer Hofdame, die am japanischen Kaiserhof lebte und alle paar Tage ihre Vorlieben und Abneigungen notierte. Jede Notiz hatte ein Thema und unter dem Thema waren dann ein paar lose, noch ungeordnete Gedanken aufgeschrieben.
    Das kleine Tagebuch hieß »Kopfkissenbuch« – dieser Titel hatte ihr sehr gefallen, wie sie auch die kurzen, nie allzu nachdenklichen, sondern eher wie spontan dahingesagten Aufzeichnungen beeindruckt hatten. Sie hatte begonnen, selbst Aufzeichnungen in dieser Art zu verfassen, und sie hatte einige dieser Aufzeichnungen Katharina geschenkt, darunter auch diese, an die sie sich noch genau erinnert:
    Warum ich Katharinas Hotelbuchhandlung mag

    Weil es in dieser Buchhandlung nur Bücher gibt,
die Katharina ausgewählt hat
Weil es in ihr nach Tee, Gewürzen und Wein duftet
Weil die Bücher nicht alphabetisch geordnet sind,
sondern nach Themen
Weil die Themen nicht die üblichen Themen sind, sondern
poetische, von Katharina erfunden und entworfen
Weil diese Buchhandlung Katharinas große,
intime Welterzählung ist
Weil man in dieser Buchhandlung auch Musik hören kann
Weil ich in dieser Buchhandlung ein gut Stück zu Hause bin
    Die Erinnerung an diesen Text stimmt sie froh, deshalb legt sie die gerade mit den Sekt-Notaten beschriebene Seite Briefpapier mit einem gewissen Schwung in die Schreibmappe und klappt sie zu, sie leert das Glas bis auf den Grund und wartet noch eine Weile, bis sie den Geschmack ganz ausgekostet hat. Dann steht sie auf, legt den Bademantel ab und zieht sich ein langes, schwarzes Kleid über.
    Im Bad bürstet sie sich kurz durchs Haar, zieht mit einem Lippenstift die Schwingung ihrer Lippen nach und verlässt dann ihr Zimmer, um sich auf den Weg zur Buchhandlung zu machen. Als sie die Tür ihres Zimmers schließen will, geht sie noch einmal an den Schreibtisch zurück. Sie greift nach dem Notizzettel, den sie dort abgelegt hat, und sie überfliegt erneut die fremde Schrift: Wer ist diese Schwimmerin? Dann steckt sie den Zettel in eine Tasche ihres Kleides und verlässt nun endgültig ihr Zimmer.

6
    ER ZIEHT einen dunkelblauen Pullover

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