Liebesnaehe
gibt sie nach. Sie löst sich von ihrer Begleiterin, schaut sich kurz noch einmal im ganzen Raum um, bleibt einen Moment wie gedankenverloren in
der Nähe der Kasse stehen, schüttelt den Kopf und folgt ihr dann endlich. Draußen, auf dem Hotelflur angekommen, schließt sie die Buchhandlung ab, dann gehen die beiden Frauen den Flur entlang, durchqueren das Restaurant und suchen sich im Freien, unter den orangefarbenen Sonnenschirmen, an einem der vielen weiß gedeckten Tische einen Platz.
8
ER SITZT noch immer in der Hotelbar, er hat das Glas Campari fast leer getrunken und könnte jetzt nach draußen schlendern, aber die Bilder und Gedanken, die ihm durch den Kopf gehen, lassen ihn nicht los. Gerade eben ist ihm die Schwimmerin im Hotelaufzug begegnet, und er hat es nicht geschafft, ein einziges Wort mit ihr zu wechseln. Dabei spürte er die Anziehung noch viel stärker als zuvor, als er sie beim Schwimmen im Pool beobachtet hatte. Die Anziehung war sogar so stark, dass er das Gefühl gehabt hatte, regelrecht sprachlos zu werden.
Es war wie eine kleine Überwältigung, aber als er jetzt in Ruhe darüber nachdenkt, kommt es ihm sehr passend und richtig vor, dass er sie nicht angesprochen hat. Bestimmt hätte er lauter Unsinn geredet und den schönen Augenblick durch die üblichen Gespräche zerstört. Warum auch gleich sprechen und reden? Warum nicht erst einmal schauen und der Versuchung widerstehen, die billige
Gelegenheit zu nutzen, alles in die bekannten Bahnen zu lenken? »War das Wasser nicht zu kühl?« – »Welches Wasser? Was meinen Sie?« – »Das Wasser im Pool, ich habe Sie beobachtet, als Sie unten im Pool ihre Runden drehten …« – »Ah, Sie waren das, na so was …« Dieses flotte Reden hat er schon immer gehasst.
Als er aufschaut, sieht er die beiden Frauen, die gerade unter den orangefarbenen Sonnenschirmen an einem Tisch Platz genommen haben. Sie sitzen mit dem Rücken zu ihm, aber wenn sie sich unterhalten, sieht er sie von der Seite, im Profil. Er starrt das nahe Bild an, es erscheint ihm wie eine Inszenierung, ja wie eine Szene auf einer Theaterbühne: Die beiden Frauen, in Dunkelrot und Schwarz, die orangefarbenen Sonnenschirme, das Weiß der Tischdecken – und dazu die offenkundige Vertrautheit der beiden, die sie wie nahe Verwandte oder gute Freundinnen erscheinen lässt.
Er schaut sehr genau hin, er wendet den Blick keinen Moment ab, es kommt ihm beinahe so vor, als forderte dieses Bild ihn auf, nach draußen zu gehen. Das aber wird er auf keinen Fall tun, denn diese Eile hat er sich verboten, er will nichts Vorschnelles sagen und tun, er will den Bildern und Erscheinungen ihren Lauf lassen.
Katharina und die schöne Schwimmerin – sie sitzen kaum zehn Meter von ihm entfernt, sehen ihn aber nicht. Es ist wie ein Bild von Mutter und Tochter, und es ist beinahe sogar so, als führte seine alte Vertrautheit mit Katharina auch bereits zu einer gewissen Vertrautheit mit der Schwimmerin und als ergäbe sich aus dem einen auf vollkommen selbstverständliche Art auch das andere. Ob
sich die beiden bereits aus Katharinas Münchener Tagen kennen? Ob die Schwimmerin vielleicht auch eine Kundin in Katharinas Buchhandlung war?
Er überlegt, ob es vielleicht nur die starken Bilder sind, die ihn so anziehen. Eben war es das Bild des Pools, jetzt ist es das Bild einer Tischszene, beide Bilder erschienen sehr frisch, leuchtend und wahrhaftig »wie gemalt«, alles in ihnen ist auf eine zentrale Empfindung hin konzentriert, das eine auf so etwas wie Schwerelosigkeit, das andere auf die Intimität eines guten Gesprächs. Aber ihn interessieren nicht nur diese Bilder und ihre schönen Oberflächen, ihn interessieren auch und noch viel mehr die Empfindungen, die sie auslösen. Längst ist nämlich auch seine Phantasie im Spiel, seine Phantasie nimmt sich dieser Bilder an und ergänzt sie um Fragen oder Geschichten. Er will wissen, was Katharina und die schöne Schwimmerin miteinander verbindet, und vor allem will er wissen, warum er sich nach so kurzer Zeit bereits mit der schönen Schwimmerin eng verbunden fühlt.
Er sieht, dass die beiden sich nun aus den Speisekarten vorlesen, ja, wahrhaftig, beide halten kleine Speisekarten in den Händen, und die schöne Schwimmerin lässt ihren rechten Zeigefinger auf einer Kartenseite langsam von oben nach unten gleiten. Manchmal stockt diese Bewegung, dann schaut sie kurz auf und blickt Katharina an, er glaubt zu begreifen, dass Katharina bestimmte
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