Liebesnaehe
entblößen – ja, genau das stellt sie sich vor. All diese langsamen Entkleidungsversuche aber würde sie am liebsten auch fotografieren, lauter kleine Details in Schwarz-Weiß, ihre Brust – seine Lippen, ihr angefeuchteter Finger – sein Hals mit der Schweißspur, ja, viele solcher zarten und sehr genauen Körperstudien sollte es geben, sie hat das alles vor Augen: Zeichnungen, Malerei, Fotografien, Filme, Inszenierungen kleiner Video-Sequenzen – Tage und Wochen könnte sie mit ihm zusammen arbeiten, mit ihm, nur mit ihm …
In genau diesem Moment aber begreift sie, was gerade passiert ist. Sie hat die Lücke in ihren Arbeitsprojekten endgültig geschlossen, sie hat den Geliebten gefunden, der von nun an gemeinsam mit ihr in diesen Projekten auftauchen und sie mitgestalten wird. Das »Kopfkissenbuch« der Hofdame Sei Shonagon – es war ihr Lieblingsbuch, weil es das Verlangen nach dem Geliebten und der Zweiheit auf indirekte Weise und doch in jedem Wort spürbar enthielt. Schritt für Schritt hat sie aus den Texten dieses Buches Versuchsanordnungen entworfen, die um nichts anderes kreisten als um die Gestalt des fernen, herbeigesehnten Geliebten. Jetzt aber hat sich diese Sehnsucht erfüllt, ja, der Geliebte ist da, allmählich hat er in ihren Projekten erste Konturen gewonnen, und nun sind sie zu zweit, endlich zu zweit, und sie sind eins, ja, sie sind ein Paar.
Niemals hat sie sich zuvor vorstellen können, andere Menschen in ihre Projekte zu integrieren, kein Foto einer anderen Person hätte je darin Platz gehabt, nur sie selbst war das Thema, nur ihr Körper, nur ihre Erwartung. Ein Ausbrechen aus diesem Konzept hin zu fremden Menschen oder Objekten hätte die Intimität ihrer Körpersprache zerstört, nein, sie hätte so etwas nicht geduldet. Nur einer einzigen Person hätte sie den Zugang zu ihrem intimen Körperreich erlaubt, nur dem Geliebten, aber sie stellte sich diesen Fall niemals länger oder konkreter vor, da sie im Grunde nicht damit rechnete, überhaupt je einen solchen Menschen zu finden. Der Geliebte ihrer Projekte war eine Kunstfigur und damit ein Teil ihrer Fantasien und Einbildungen, jetzt aber ist aus diesen vagen
und undeutlichen Projektionen eine reale und greifbare Gestalt geworden. Ist so etwas nicht eigentlich ein Wunder, ja, nennt man die Realisierungen unmöglicher Fantasien und Träume, nennt man solche Prozesse nicht »Wunder« ?
In Zukunft wird er ein fester Teil ihrer Projekte sein, er wird sie fotografieren, sie wird ihn fotografieren, und sie werden sich natürlich immer wieder gemeinsam fotografieren. Sie wird all das, was in den nächsten Wochen geschehen wird, bis ins letzte Detail dokumentieren, ja, sie wird den gesamten Liebesprozess in allen nur erdenklichen Formen und Medien zum Thema machen. Und damit einher wird die Dokumentation ihrer bisherigen Leben gehen, ja, sie wird ihn zu einem Teil von »Jules Archiv« machen, und sie wird mit ihm zusammen das »Archiv seiner Kindheit« entwerfen, das bis jetzt noch stumm und dunkel in einer Scheune irgendwo auf dem Land steht.
Jetzt, beim Anblick seines schlummernden Körpers, flackert ihre Erregung wieder auf, doch inzwischen ist aus dem Stoff einer puren und präzisen Erotik ein Stoff für die Arbeit geworden. Das passt, das stimmt genau, denkt sie, die Erotik unserer Körper wird sich noch steigern in der Erotik der Arbeit, denn die Erotik der Arbeit wird nichts anderes sein als die Kunstform unserer Liebe und unserer Annäherung. Sellerie, Walnüsse, Rehrücken, Kohlrabi, Äpfel – sie geht die Speisenfolge noch einmal in Gedanken durch, um bloß keine Details zu vergessen. Später wird sie die Teller mit den Speiseresten fotografieren,
und noch ein wenig später wird sie in ihrem Skizzenbuch kleine Bleistiftzeichnungen dieser Mahlzeit anfertigen. Ein weiter, unerschöpflicher Kontinent der Arbeit tut sich nun auf, ein unaufhörliches Arbeiten an einem gewaltigen Liebesprojekt aus Zeichnungen, Bildern, Texten und Klängen.
Hier steht sie – der Kunstkörper, und dort liegt er – der Textkörper, und was zwischen ihnen vermittelt – das ist der Musikkörper. Altjapanische Musik, Jazz, kleine Klarinetten-Soli, Mozarts Klarinettenkonzert.
Sie sieht Fragmente ihres weiteren Lebens plötzlich vor sich, sie sieht ihr gemeinsames Arbeiten, ihre Reisen, die halbe Zukunft. Morgen früh wird sie ihn nach München begleiten, denn sie werden zusammen dorthin zurückfahren, natürlich, und sie werden in München in
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