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Liebesnaehe

Liebesnaehe

Titel: Liebesnaehe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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Karten in Händen, der wieder von einem roten Gummi zusammengehalten wird.
    – Das ist nicht alles, sagt sie, das ist nur ein kleiner Teil
und der Anfang, aber diese Menge dürfte vorerst reichen, damit Du einen ersten Eindruck gewinnst.

    Er nimmt den Stapel entgegen, leert rasch seine Tasse und steht auf. Er küsst sie auf beide Wangen, dann verlässt er die Buchhandlung. Sie schaut ihm hinterher, sie überlegt noch einmal, ob es richtig war, ihm diese Notizen zu geben. Ja, es war richtig, diese Notizen sind nicht intim, und sie mischen sich auch auf keine andere Weise indiskret in sein Leben ein. Wie meist hat sie sich ausschließlich darum bemüht, so genau wie möglich festzuhalten, was sie zu sehen und zu hören bekam. Als er verschwunden ist, sagt sie plötzlich laut »Mein guter Junge«, sie erschrickt und fährt sich mit einer Hand über den Mund. Was ist bloß in sie gefahren, dass sie so mit ihm spricht?

    Er nimmt diesmal nicht den Lift, der Lift ist ihm jetzt zu langsam, er springt die Treppenstufen mit einigen raschen Sätzen hinauf und geht dann durch den abgedunkelten Flur zu seinem Zimmer. Als er es wieder betritt, kommt es ihm vor, als wäre er Wochen fort gewesen. Sind das noch seine Sachen, die auf dem Schreibtisch liegen? Begegnet er in diesem kühlen Zimmer jetzt nicht den Utensilien eines ganz und gar Fremden?

    Er zieht seine Schuhe aus und legt sich aufs Bett. Das Sonnenlicht draußen taucht die gesamte Hotelanlage jetzt in ein schwimmendes, brodelndes Gold, das immer schwerer zu werden scheint und allmählich zu Boden sinkt. Er zieht das rote Gummi von dem Stapel mit den beschriebenen Karten, dann beginnt er mit der Lektüre. In Form
und Gestaltung ähneln diese Aufzeichnungen anscheinend sehr den Aufzeichnungen, die Katharina sich über die gemeinsamen Lektüren mit Georg gemacht hat. Sie sind knapp, klar und erzählen im Grunde kleine, pointierte Geschichten von ihren Lektüre-Erlebnissen.

    Er selbst kann sich gar nicht mehr genau an all diese Lektüre-Gespräche erinnern, die Erinnerung stellt sich dann aber meist doch wieder ein, wenn er sich die Räume und Zeiten vergegenwärtigt, die Katharina in kurzen Protokoll-Angaben immer an den Anfang ihrer Notizen gestellt hat. München, 17. April, mittags im »Franziskaner«. Johannes hat den »Werther« gelesen. »Ich habe den »Werther« gelesen«, sagt er, »ich, ich, ausgerechnet ich! Als ob es nichts anderes zu lesen gäbe! Und als hätte ich den »Werther« nicht schon zweimal gelesen! Es ist aber gar keine Liebesgeschichte, wie alle Welt annimmt und wie ich auch immer angenommen hatte. Nein, es ist ein Eifersuchtsdrama. Lotte, Albert – dieser Werther ist auf die halbe Welt eifersüchtig, sogar auf Gott. Die Eifersucht bringt ihn um und nicht so etwas Banales wie Liebeskummer.« Ich fragte ihn, wie er auf Eifersucht käme, und er antwortete, dass ihm Eifersucht vollkommen fremd sei, er sei noch nie eifersüchtig gewesen, wirklich noch nie, er habe überhaupt keinen Grund, auf irgendjemanden eifersüchtig zu sein. Einzelkinder seines Schlages seien nicht eifersüchtig, zumindest so etwas Positives bringe das Einzelkinddasein mit sich, zumindest das. Gerade deshalb aber, gerade weil er noch nie eifersüchtig gewesen sei, wittere er bei anderen Menschen sofort die Eifersucht. Er spüre es, wenn jemand eifersüchtig sei, er erkenne es am harmlosesten Gesichtsausdruck, und er empfinde immer einen starken Ekel, wenn er so etwas zu spüren bekomme. »Auch dieser Werther
ekelt mich an!« sagte er schließlich, so dass ich lachen musste. »Du tust, als hättest Du ihn gerade noch im Englischen Garten getroffen«, sagte ich. »Aber was redest Du denn?« antwortete er, »natürlich habe ich ihn gerade im Englischen Garten getroffen, dort habe ich das Buch vor kaum einer halben Stunde zu Ende gelesen!«

    Er muss lachen, als er diese Aufzeichnung liest. Ja, so impulsiv verliefen viele ihrer gemeinsamen Unterhaltungen, viel impulsiver als die Gespräche, die Katharina mit Georg geführt hat. Mit ihrer ruhigen Art reizte sie ihn manchmal, denn er selbst konnte bei den meisten Lektüren nicht ruhig und gefasst bleiben. Lektüren, bei denen man ruhig und gefasst blieb, waren »Bildungs-Lektüren«, ja, so hatte er Romane und Erzählungen, die man nur wegen eines fragwürdigen Bildungsinteresses las, meist genannt. »Ich lese keine Romane oder Erzählungen, um mich über irgendetwas zu informieren oder um zu wissen, in welchen Kostümen oder Regionen

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