Liebesnaehe
man um 1800 zum Beispiel gerne Spargel verzehrte. All das ist bloße Bildung, und wenn diese Bildung nichts Emotionales umkreist und durchdringt, ist sie nichts anderes als ein nichtssagender Internet-Link. Große Literatur aber handelt von tiefen Emotionen und Tiefenerfahrungen wie Tod, Trennung, Liebe und Glaube – alles andere lassen die richtigen Leser sowieso irgendwann als Geröll der Literaturgeschichte links liegen.«
Zunächst erkennt er sich im heftigen Ton dieser Gesprächsnotate kaum wieder. Es sind Notate, die von einem gereizten Menschen handeln, der sich wie ein Verwundeter über die Bücher hermacht. Er wirft sie zur
Seite, er schleudert sie gegen die Wand, er schmeißt sie im hohen Bogen zum Fenster raus. Ein starkes inneres Wüten setzt sich anfänglich von Aufzeichnung zu Aufzeichnung fort, und dieses Wüten ist verbunden mit rigider Abgrenzung. Ich gegen die Welt! Weg da! Fort! Macht Platz! Ich brauche Luft! – er glaubt diese unterdrückten Schreie zu hören, während er die Aufzeichnungen liest.
So war das also damals, wenige Wochen nach Mutters Tod. Er macht den Eindruck eines beinahe ununterbrochen tobenden Menschen, der nichts neben sich bestehen lässt. Seine Kommentare sind Tiraden, aber sie handeln im Grunde gar nicht von den Büchern, nein, sie handeln von einer großen, verlorenen Liebe. Er hat den Kontakt zur Welt verloren, weil er den Kontakt zu seiner Mutter verloren hat, das ist es, das begreift er nun plötzlich.
Er liest weiter, dann unterbricht er seine Lektüre, trinkt ein Glas Wasser und setzt seine Lektüre etwas weiter hinten fort. Noch immer ist dieser gereizte Ton da, aber er wird langsam milder und vor allem amüsanter. Ja, allmählich findet der hilflose Mensch, der er war, sein Verhalten selbst etwas komisch und schafft es dann sogar, sich über sich selbst lustig zu machen. München, 16. Juni, abends im »Augustiner«. Johannes hat einige Kapitel im »Ulysses« von Joyce gelesen, zur Feier des Tages. »Ich würde das Ganze furchtbar gerne umschreiben«, sagt er, »vor allem den Anfang. Der Anfang ist ungelenk und sitzt nicht und macht es dem Leser nur deshalb schwer, weil Joyce noch nicht genau weiß, was er sich da so alles vorgenommen hat. Er hätte den Roman im Nachhinein, zum Ende hin, als er das Projekt besser überblickte,
noch einmal von vorn angehen müssen. Ich könnte so was, glaub mir, ich wäre, was eine solche Überarbeitung angeht, der bessere Joyce, ja, glaub mir, ich bin heute sogar so großkotzig, dass ich mir einbilde, Kapitel der Bibel besser hinzubekommen als der liebe Gott sie hinbekommen hat. Verdammt, ist das jetzt stark daneben? Habe ich jetzt etwas vollkommen Deplatziertes gesagt?« Ich beruhige ihn, aber er lässt sich nicht beruhigen und geht stumm auf die Toilette. Ich bestelle ihm noch ein großes Helles, und als er zurückkommt, trinkt er es auf einen Zug leer. »Der liebe Gott hat gemeint, ich solle mir keine Sorgen machen«, sagt er, »der liebe Gott kennt weder Zorn noch Eifersucht. Deshalb hat er mir aufgegeben, das Buch Judith neu zu schreiben, aber rasch, bis Ende der Woche.« Ich frage ihn, ob er es wirklich versuchen wolle, und er antwortet, in seinem Kopf sei das Buch Judith bereits fertig. Dann aber lacht er so laut, dass die Gäste in unserer näheren Umgebung uns von allen Seiten ins Visier nehmen.
Sein lautes, heftiges, sich überschlagendes, die Worte noch überbietendes Lachen – mit einem Mal ist es da. Die große Wut scheint gebrochen, aber sie lässt noch immer starken Dampf ab, und dieser Dampf schlägt sich nieder in Lachen, Fluchen, Verwerfen.
Er schüttelt irritiert den Kopf, so etwas hatte er nicht erwartet. Ganz deutlich zeichnet sich in diesen Notaten seine innere Geschichte ab, so, wie sie sich als ein einziges Psycho-Drama nach Mutters Tod entwickelte. Sein Abstand zur Welt, ihr lautes Verlachen, seine bittere Selbstironie – es ist unglaublich, was für genaue Bilder seines damaligen Zustandes diese Notate zeichnen. Er wird sie
nicht mehr aus der Hand geben, nein, er wird den ganzen Stapel und den Rest, den Katharina unten in ihrem Archiv verwahrt, mit nach München nehmen, um die Karten dort in Ruhe zu lesen.
Er überblättert einen großen Stoß und nimmt sich noch eine der letzten vor. München, 05. November, abends im Englischen Garten. Johannes hat heute Geburtstag, und er ist so ruhig, wie ich ihn noch nie gesehen habe. Wir sitzen am Kleinhesseloher See und haben großes Glück, es ist einer
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