Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Liebesnaehe

Liebesnaehe

Titel: Liebesnaehe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
Vom Netzwerk:
der vielleicht letzten noch halbwegs warmen Tage des Jahres. Er spricht nur wenig, und als wir etwas gegessen haben, wünscht er sich, dass ich ihm einige Gedichte aus einer Anthologie deutscher Gedichte vorlese. Manchmal bittet er darum, dass ich eines der Gedichte wiederhole, bei anderen Gedichten unterbricht er mich und sagt leise »das bitte nicht«. Als ich ihm schließlich zwei, drei Gedichte von Stefan George vorlese, wird es so still, dass mir unheimlich wird. Ich schaue ihn aber nicht an, denn ich vermute, dass er mit einer starken Rührung kämpft. Als eines der Gedichte dann aber unverhofft mit der Zeile »Mein Kind kam heim« beginnt, steht er plötzlich auf und geht davon. Ich bleibe ruhig sitzen und warte auf ihn. Als er eine halbe Stunde fort ist, will ich ihn suchen gehen. Ich stehe auch wirklich auf, da erscheint er plötzlich, als hätte er irgendwo auf mein Aufstehen gewartet. »Ich bin heute keine gute Erscheinung«, sagt er, und dann entschuldigt er sich. Er hat sich noch nie für irgendetwas entschuldigt. Als ich antworte, dass er sich doch nicht zu entschuldigen brauche, antwortet er, dass er sich eigentlich für sein ganzes zerknittertes Dasein und all seine Fehlleistungen in den letzten Monaten entschuldigen müsse. Ich sage ihm, dass Entschuldigen Blödsinn sei, vollkommener Blödsinn, und dass man sich bei einem Menschen, der einen
sehr möge, für nichts, ja rein gar nichts entschuldigen müsse. Er schaut mich an und fragt mich, ob ich etwa sagen wolle, dass ich ihn möge. Ja, antworte ich, ich mag Dich sehr, Du bist mein bester Begleiter und Freund. Er starrt mich an und blickt danach auf den Tisch, dann sagt er leise: Oh mein Gott, verdammte Scheiße!

    Als er diese Passage gelesen hat, bricht er seine Lektüre ab. Nein, es ist unmöglich, diese Aufzeichnungen in Eile zu lesen. All diese Geschichten seiner inneren Entwicklung nach Mutters Tod, die er noch nie so klar und deutlich vor Augen gehabt hat, konfrontieren ihn mit sich selbst, und für eine solche Selbstkonfrontation braucht er viel Ruhe und Zeit. Er trinkt noch einen Schluck Wasser, er möchte das nächste Gespräch jetzt nicht länger hinausschieben, Katharina soll gleich erfahren, was ihm durch den Kopf geht.

    Er lässt die Aufzeichnungen in seinem Hotelzimmer liegen und geht sofort wieder hinunter in die Buchhandlung. Katharina lacht kurz auf, als er die Buchhandlung betritt:
    – Das habe ich mir beinahe gedacht, dass Du in Kürze wieder erscheinst, sagt sie.
    – Ah ja? antwortet er, dann hast Du also gewusst, dass mir Deine Aufzeichnungen sehr nahegehen?
    – Ich habe es vermutet, sagt sie.
    – Sie unterscheiden sich sehr von den Aufzeichnungen, die Du über Deine Gespräche mit Georg gemacht hast. Im Grunde schreiben sie an einem Porträt, am Porträt eines verzweifelten, gereizten und liebesbedürftigen Menschen,
der sich mit keinem Wort eingesteht, dass er alles das ist. Ich habe aber noch nicht viel davon lesen können, dazu brauche ich einfach mehr Zeit. Deshalb möchte ich Dich bitten, mir das ganze Paket mit nach München zu geben.
    – Das ganze Paket? Du willst alles lesen, was ich damals über unsere Begegnungen notiert habe?
    – Natürlich will ich das alles lesen, jeden Satz, jede noch so kleine Bemerkung. Es tut den Texten und mir übrigens gut, dass Du unsere Gespräche so distanziert protokolliert hast. Du kommentierst und wertest nicht, Du hörst vor allem gut zu und beobachtest genau. Mehr kann ich im Augenblick nicht dazu sagen, ich möchte mich aber noch bei Dir bedanken, Deine Notate sind für mich ein großes Geschenk.
    – Du brauchst Dich nicht zu bedanken, das Notieren war für mich ja keine unangenehme oder lästige Arbeit, sondern eher eine Übung und damit auch ein Vergnügen. Und außerdem warst Du ein wunderbares Objekt für die Gattung »Studium eines Dir nahen Menschen«, ein besseres hätte ich nach Georgs Tod ja kaum finden können.
    – Hast Du über Deine Treffen mit Jule nichts notiert?
    – Doch, aber nicht viel. Ich konnte darüber nicht viel notieren, es gab da eine starke, innere Blockade, die mit Georgs Tod zu tun hatte. Das Thema Georg sollte für mich abgeschlossen sein, das war es wohl, ich wollte nicht weiter in Erinnerungen herumwühlen.
    – Aber Ihr beide habt bei Euren Treffen doch sicher in Erinnerungen herumgewühlt.
    – Ja, anfänglich schon, das war ja auch nicht zu vermeiden, und außerdem haben wir uns über unseren gemeinsamen Verlust auf diese Weise

Weitere Kostenlose Bücher