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Liebesnaehe

Liebesnaehe

Titel: Liebesnaehe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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haben, die Sache entwickelt sich, denkt er, die Sache wächst und gedeiht. Indem er sich auf diese Weise gut zuredet, gerät er noch zusätzlich in Schwung, er steht sofort auf, steckt sein Notizbuch ein und geht dann durch das Foyer hinaus ins Freie. Ein Spaziergang, ja, das ist jetzt absolut das Richtige, er wird darüber
nachdenken, was »the artist is present« noch alles bedeuten könnte.

    In München, überlegt er, hätte sich ein solches Geflecht aus Signalen und Andeutungen nicht aufbauen können, nein, dort wären all diese Spuren wohl bald ins Leere gelaufen. Hier aber, auf dieser einsamen und vom sonstigen Leben abgeschotteten Insel, verdichten sie sich, und man denkt schon wegen der mangelnden Ablenkung laufend über sie nach. Seit er im Hotel angekommen ist, hat sich eine stetig wachsende Spannung aufgebaut, die noch dadurch gesteigert wird, dass man sich auf diesem beschränkten Raum immer wieder begegnet. Die Nähe des anderen ist so ohne Verzögerung oder Umwege spürbar, ja, er hat inzwischen sogar das Gefühl, dass er nicht mehr allein, sondern bereits zu zweit lebt. Was auch immer er tut, wird von Jule Danners Nähe bestimmt und geprägt, deshalb kann man sein Leben kein Alleinsein mehr nennen, sondern sollte eher von einem doppelten Dasein sprechen.

    Und so etwas widerfährt ausgerechnet ihm, Johannes Kirchner, dem Meister des Alleinseins! In den letzten Jahren hat er aus diesem Alleinsein eine Art Kunst gemacht, er hat sich immer mehr auf sein Schreiben konzentriert und nur wenige Stunden der Woche in Gesellschaft verbracht. Schließlich wurde dieses Alleinsein sogar so extrem, dass er lieber allein essen ging als mit Freunden, ganz zu schweigen von seinen Kino-, Theater- oder Konzertbesuchen, bei denen er eine Begleitung fast überhaupt nicht mehr ertrug. Er mochte die Augenblicke beim Verlassen einer dieser Kulturstätten nicht, wenn das muntere
Reden über das eben Gesehene begann und damit auch geradezu zwangsläufig das ewige Beurteilen und Verallgemeinern einsetzte, nein, gerade in solchen Momenten wollte er erst einmal seine Ruhe haben und die gesehenen Bilder oder Klänge nachwirken lassen.

    Worauf anderes liefen denn all diese flotten Unterhaltungen letztlich hinaus als darauf, die gerade entstandenen Eindrücke rasch wieder abzutöten, einzuordnen und vergessen zu machen? Für ihn gab es nur einen Bereich, wo solche Gespräche notwendig und richtig waren, und dieser Bereich war der Sport. Sportereignisse schaute er sich gern mit Freunden an, und er hatte nicht das Geringste dagegen, wenn man Sportereignisse bereits während ihres Verlaufs und natürlich erst recht nach ihrem Ende kommentierte. Sportereignisse nämlich lebten ausschließlich vom Kommentar, ohne Kommentar gerieten sie sofort in Vergessenheit, denn Sportereignisse hatten ein so momentanes und auf den Sekundenkitzel hin angelegtes Leben, dass zum Beispiel einen Monat nach einem wichtigen Fußballspiel kaum noch ein Mensch wusste, wie das Resultat lautete und wer die Tore geschossen hatte.

    Damit also das große Vergessen den Sport nicht auffraß und in rasender Geschwindigkeit Bild für Bild aus dem Gedächtnis löschte, musste man als Zuschauer während eines Sportereignisses ein guter Kommentator und am besten noch mit lauter anderen Kommentatoren zusammen sein. Monate später erinnerte man sich dann immerhin an die Kommentare und über diese Umwege wieder an das Ereignis.

    Bei guten Filmen, Konzerten oder Theateraufführungen war das aber ganz anders, denn ihre Qualität bewies sich durch eine lange Nachwirkung. Je länger ein Film, ein Konzert oder eine Theateraufführung nachwirkten, umso besser waren sie, die Nachwirkung war geradezu ein Indiz dafür, dass sie sich dem Betrachter in immer neuen Facetten einprägten. Genau auf diese Facetten und damit auf die Nacherzählungen der Ereignisse kam es an, denn aus den Nacherzählungen wurden mit der Zeit private und persönliche Erzählungen, und diese persönlichen Erzählungen wurden schließlich zu einem wichtigen Teil der eigenen Biographie.

    Das Kochen, das Spazierengehen, das Alleinsein – über all diese Themen hatte er in den letzten Jahren nachgedacht, und er hatte viel Zeit und Geduld auf dieses Nachdenken verwendet. Wenn er die Themen in Ruhe anging und durchdachte, befriedigte ihn das mehr, als rasch und vorschnell in den verschiedensten Freundeskreisen eine Meinung nach der andern abzuliefern. Deswegen aber hatte er sich mit der Zeit immer mehr von den

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