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Liebesnaehe

Liebesnaehe

Titel: Liebesnaehe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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anderen entfernt, ja, er hatte sich zurückgezogen, und diese Zurückgezogenheit hatte ihn nicht gestört, weil ihm das frühere, geselligere Leben nicht gefehlt hatte.

    Was ihm aber umso mehr gefehlt hatte, war intensive Zuwendung, ja, er musste zugeben, dass er sich nach einer solchen Zuwendung immer mehr gesehnt hatte. Er ahnte, wodurch diese Sehnsucht sich in letzter Zeit noch zusätzlich verstärkt hatte, aber er wollte darüber jetzt, während seines Spaziergangs, nicht nachdenken. Eine Zuwendung
von der Art, wie er sie sich vorstellte, erhielt man nur von einem einzigen Menschen, und sie gründete in einer schon immer vorhandenen Zusammengehörigkeit. Eine solche Zusammengehörigkeit war nicht künstlich herstellbar oder mutwillig zu erzeugen, sie war vielmehr einfach da, sie war vorhanden, und sie war so mächtig, dass keiner der beiden Beteiligten überhaupt auf den Gedanken kam, sie in Frage zu stellen.

    Seltsam, aber man konnte ihm diesen Gedanken einfach nicht austreiben: dass es auf dieser Welt einen Menschen geben musste, der ganz und gar zu ihm gehörte. Im Grunde steckte hinter diesem Gedanken ein naiver Glaube, der zu den starken Hoffnungen gehörte, die ihn am Leben erhielten. Es gab mehrere solcher Glaubensinhalte, an denen sein Leben hing, sie bildeten den festen Untergrund seiner Existenz, ohne sie hätte sich sein Leben bis in die kleinsten Momente anders gestaltet. Dann und wann gerieten diese Glaubensinhalte in Vergessenheit, und er dachte nicht mehr an sie, sie lebten aber ununterbrochen in ihm weiter, das wusste er genau.

    An diesem Vormittag war seine Sehnsucht nach Zusammengehörigkeit zum Beispiel wieder erwacht. Er wusste noch nicht, wie es dazu gekommen war, denn das ergab sich nicht aus heiterem Himmel. Ein Sich-Verlieben mochte sich aus heiterem Himmel ergeben, das schon, ein Sich-Verlieben war aber auch etwas anderes als das Empfinden einer unverbrüchlichen Zusammengehörigkeit. Er mochte die Formel »ich habe mich verliebt« deshalb nicht. Verlieben konnte man sich schließlich an jeder Ecke und
in jedes hübsche Gesicht, sich verlieben war etwas wie Sport und daher eine kurzfristige Sache, die man höchstens mit vielen Kommentaren am Leben erhielt.

    Wie sollte man es dann aber nennen? »Liebe«?! Reichte dieses Wort? »Ich liebe Dich« – das hätte er niemals gesagt, denn die Zusammengehörigkeit, an die er dachte, hatte solche Deklamationen doch gar nicht nötig. Das Wort »Liebe« klang in seinen Ohren auch zu sehr nach Seife und Anstand und Wohlerzogenheit, ja, »Liebe« hatte etwas Statuenhaftes, Erstarrtes und künstlich Triumphales, das man höchstens durch Überbietung aus der Welt schaffen konnte. »Die große Liebe« dagegen, ja, das war richtiger, er glaubte an »die große Liebe«, und die große Liebe war Fest, Tanz und Oper und eben keineswegs Film, Konzert und Theater. Film, Konzert und Theater waren die auf Anstand und Normen getrimmten Medien der »Liebe«, Fest, Tanz und Oper aber waren die verrückten Rituale »der großen Liebe«.

    Er ist jetzt schon eine Zeit lang unterwegs, und er geht relativ schnell, dieses rasche Gehen passt zu seinem Nachdenken, das während solcher Spaziergänge oft gut in Fahrt kommt. Ja, auch jetzt spürt er, wie das Gehen seine Gedanken in Bewegung hält und wie die Gedanken sich beinahe spielerisch fortsetzen, er hat sogar bereits den Eindruck, als ginge er seinen davoneilenden Gedanken nur noch hinterher. Das alles macht starkes Vergnügen, ja, er empfindet dieses Vergnügen sehr deutlich, es ist wie ein anhaltendes Kribbeln, das ihn aber nicht nervös, sondern eher hellwach und gespannt macht.

    Der Weg nähert sich jetzt den großen Gebirgsmassiven, kurz taucht er in ihren matten, schweren Schatten ein und gerät dann auf einen schmaleren Pfad, der direkt unterhalb der Felsen verläuft und sich dann – wie befreit – durch einige sonnige Wiesenpartien schlängelt. In der Ferne erkennt er einen Sitzplatz, wo anscheinend eine Person Platz genommen hat, er überlegt, ob er einen anderen Weg, quer durch die Wiesen, um den Sitzplatz herum, nehmen soll, entscheidet sich dann aber doch dafür, den Spaziergang auf dem einmal eingeschlagenen Pfad fortzusetzen. Er wird die fremde Person nicht beachten, er wird an ihr vorbeieilen.

    Während er weitergeht, schaut er fest in die Ferne, er möchte weder jemanden grüßen noch von jemandem gegrüßt werden, das alles bringt ihn nur durcheinander, am Ende muss er sich noch mit einem

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