Liebesnaehe
starken, türkischen Tee, den mag er besonders, er trinkt eines der kleinen, geschwungenen Gläser leer, die in eine Hand passen und die man beim Trinken mit zwei Fingern am oberen Rand festhält.
Dieser gesamte Bezirk liegt anscheinend unter der Erde, jedenfalls ist er fensterlos. In all seiner Stille hat er etwas Verträumtes, Entrücktes, er hätte große Lust, hier unten etwas zu lesen und während der Lektüre nur das leise Sprudeln des Brunnens zu hören. Bloß keine Musik, bloß nichts, was auf all diese fremden Atmosphären noch eins draufsetzt! Er kauert sich in eine der dunkelblauen Nischen in der Nähe des Brunnens und lehnt sich mit dem Kopf gegen die Wand. Er schließt die Augen und lauscht.
Wo ist sie? Nachdem sie ihren Brief über das »Kopfkissenbuch« geschrieben hat, hat sie ihr Zimmer verlassen. Und weiter? Wohin ist sie gegangen? Sie ist in die Buchhandlung
gegangen, sie hat sich mit Katharina getroffen. Die beiden sitzen jetzt einen oder zwei Stock über ihm und plaudern vielleicht gerade. Könnte das sein? Ja …, natürlich …, natürlich … – er ist sich absolut sicher, er hat nicht die geringsten Zweifel, es ist beinahe so, als stünde er mit Jule Danner nun in einem direkten Kontakt. Er ahnt bereits, was sie als Nächstes tut, und langsam gewinnt er auch einen Zugang zu ihren Gedanken. Und was denkt sie? Sie möchte ihn für weitere ihrer kleinen Inszenierungen gewinnen, sie entwirft Szenen und durchstöbert in Gedanken die gesamte Anlage dieses Hotels. Und er, was denkt er?
Er würde sich gerne in ihrem Zimmer aufhalten, nur kurz, nur für eine halbe Stunde. Er würde ihr ein kleines Tablett mit türkischen Süßigkeiten auf den Tisch stellen und dazu etwas türkischen Tee, und er würde auf einem Sofa Platz nehmen, als erwartete er sie. Er würde nichts anrühren in diesem Zimmer und keinen der Schränke öffnen, obwohl es ihn reizen würde, einmal nachzuschauen, ob diese Kleiderschränke mit lauter japanischen Kleidungsstücken und Utensilien gefüllt sind.
Interessieren würden ihn auch die Bücher auf ihrem Schreibtisch, vielleicht hätte sie außer dem »Kopfkissenbuch« noch weitere asiatische Titel dabei, er würde einen Blick auf diese Bücher werfen, aber er würde sie auf keinen Fall öffnen. Öffnen würde er jedoch ihren Laptop, ja, er würde ihn sogar einschalten, um die altjapanische Musik zum Klingen zu bringen, die sie in einem speziellen Ordner gespeichert haben wird. Eine Bambusflöte,
Trommeln, diese stille, konzentrierte Musik zieht ihn an, sie passt genau zu all dem, was in diesem Hotel gerade mit ihm passiert.
Er hat München jetzt beinahe völlig vergessen, als habe er seit seiner Ankunft in dieser Einsamkeit alle Erinnerungen an seine Wohnung und sein dortiges Leben aus dem Gedächtnis gelöscht. Die jüngste Vergangenheit scheint es nicht mehr zu geben, dafür aber stößt er immer häufiger auf Bilder aus den letzten Jahren, die ihm keine Ruhe lassen und ihn manchmal sogar erschrecken.
Wenn er so dasitzt wie jetzt, in diesem Moment, fernab von anderen Menschen, in einer wie gemeißelt erscheinenden Stille, entstehen in ihm die Bilder seines Elternhauses, das weit von hier entfernt in einer ländlichen, menschenarmen Gegend liegt. Er sieht sein ehemaliges Kinderzimmer und sein kleines Studierzimmer unter dem Dach, er sieht das Wohnzimmer mit dem weiten Blick in die Landschaft, und schließlich sieht er das Schlafzimmer der Eltern, in dem zunächst sein Vater und fast ein Jahrzehnt später auch seine Mutter gestorben ist.
Immer wieder stößt er in letzter Zeit auf diese unheimlichen Tiefenschichten der Erinnerung, und da er zu schwach ist, sich ihnen zu entziehen, sitzt er oft nächtelang in der Stille seiner Münchner Wohnung, bewegungslos, sprachlos. Er hört das Ticken der Küchenuhr seines Elternhauses, und er stellt sich vor, dass er dort jetzt Musik hören würde, allein im Wohnzimmer sitzend, mit dem Blick in das Dunkel. Dieses ferne Haus lässt ihn nicht los,
das weiß er, aber er versteht nicht, wodurch es eine derartige Macht über ihn gewinnen konnte. Er kann sich nicht dagegen wehren.
Ja, es zieht ihn zurück zu diesen Bildern, und schließlich ist es so weit, dass er nachgibt und noch in der Nacht einen Koffer packt, um sich auf den Weg nach Hause zu machen. Ja, sagt er dann manchmal laut zu sich selbst, es ist ja schon gut, ich komme, ich komme heim, und dann bleibt ihm nichts, als seinen Koffer zum Wagen zu schleppen und die Nacht
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