Liebesnaehe
fast alle Hotelgäste abgezogen sind. Das lang gestreckte Büffett, das aus lauter kleinen Tischen besteht und sich in der Mitte des Raumes befindet, steht verwaist da, nur an zwei, drei Tischen sitzt noch ein Paar, das sich traut, so früh ein Glas Sekt zu trinken.
Wenn er jetzt hier wäre, würde sie mit ihm auch ein Glas trinken. Eins oder zwei? Ach was, sie würde mit ihm mehrere Gläser trinken, das ist doch klar. Sie geht zu einem kleinen Tisch ganz am Rand und holt sich eine Tasse starken Kaffee. Sie gibt eine winzige Menge Milch hinzu, aber keinen Zucker. Dann holt sie sich vom Büffett ein Croissant und isst es sehr langsam, wobei sie nach jedem Bissen einen kleinen Schluck Kaffee trinkt.
Sie fühlt sich entspannt und aufnahmebereit, all ihre Kräfte sind auf das Projekt konzentriert. Wie gut sie in diesen frühen Morgenstunden, als die meisten Gäste noch schliefen, schon damit vorangekommen ist! Die frühen Morgenstunden sind das Geheimnis der Arbeit. Wer sich dagegen auf die späte Nacht verlässt, so, wie viele Künstler es tun, ist schon verloren. Die späte Nacht ist
nichts für Projekte, die späte Nacht ist die Zeit des Geliebten.
Sie lacht kurz auf, schaut sich aber sofort um, ob jemand dieses plötzliche Lachen bemerkt hat. Ja, eine der jungen Bedienungen hat es bemerkt und kommt auch sofort an ihren Tisch.
– Guten Morgen, Frau Danner. Ich sehe, es geht Ihnen gut.
– Ja, es geht mir gut. Sobald ich morgens zum ersten Mal einen starken Kaffee getrunken habe, passiert irgendetwas Gutes in meinem Gehirn.
– Sie frühstücken lieber spät?
– Ja, ich frühstücke meist spät, und ich frühstücke wenig. Ein Croissant, ein starker Kaffee. Und vorher vielleicht ein oder zwei Gläser Sekt.
– Sekt am frühen Morgen?
– Sekt am liebsten am sehr frühen Morgen.
– Aha, ich verstehe.
– Sie verstehen? Aber was gibt es da zu verstehen?
Sie lacht noch einmal kurz auf und macht sich nichts daraus, dass die Bedienung sie etwas fragend anschaut. Soll sie doch denken, was sie will, es ist ihr gleichgültig. Dann steht sie auf und macht sich auf den Weg zur Buchhandlung. Sie hat Katharina einiges zu erzählen, und sie ist gespannt darauf, wie Katharina auf ihre Erzählungen reagieren wird.
Wo ist er? In seinem Zimmer? In seinem Zimmer! Er wird ihren Brief jetzt vorgefunden haben, er wird ihn mehrmals
lesen und überlegen, wie er auf diesen Brief antworten soll. Eine leichte Unruhe wird ihn befallen, vielleicht wird auch er ein Glas Sekt trinken, aber nein, keinen Sekt. Keinen Sekt, etwas anderes. Und was? Er wird am Fenster stehen und hinaus auf die im Sonnenlicht vibrierende Landschaft schauen. Die Kiefernbäume, die Flöte, die Wildgänse.
17
ALS ER in sein Zimmer zurückkommt, bemerkt er als Erstes den Brief auf seinem Schreibtisch, er öffnet ihn aber nicht sofort, sondern lässt sich damit noch etwas Zeit. Er geht den Vormittag in Gedanken kurz durch, er möchte einen Gang durch die Hotelanlage machen, einen Kaffee trinken, vielleicht auch einige Zeit in der Bibliothek verbringen. Zu Mittag essen aber möchte er heute nicht im Hotel, am liebsten wäre es ihm, irgendwo außerhalb, in einem kleinen Gasthof, zu Mittag zu essen. Das wäre so in etwa seine Planung, er ahnt aber, dass es noch viele Änderungen geben wird. Auf jeden Fall sollte er Katharina anrufen, um sich mit ihr abzustimmen.
Er geht in das Bad, kämmt sich die Haare und reibt die trockene Gesichtshaut mit etwas Hautcreme ein. Was sie wohl gerade macht? Sie hat ihm anscheinend einen Brief geschrieben, und das heißt, dass sie inzwischen einige Zeit in ihrem Zimmer verbracht hat. Vielleicht hat auch
sie gerade vor, mit Katharina zu telefonieren, er lächelt bei diesem Gedanken und geht rasch zurück in die Nähe der Fenster. Er zieht die Vorhänge etwas zur Seite und schaut hinaus, dann wählt er Katharinas Nummer:
– Guten Morgen, ich bin’s, Johannes. Ich frage mich gerade, was wir beide heute so vorhaben?
– Guten Morgen, mein Lieber. Am liebsten würde ich gleich mit Dir an die frische Luft gehen, aber ich muss hier noch etwas ausharren.
– Was hältst Du davon, wenn wir irgendwo in der Nähe in einem kleinen Gasthof zu Mittag essen?
– Ah, ich verstehe, Du sehnst Dich nach einem großen Hellen und einer bayrischen Brotzeit.
– Genau danach.
– Es gibt einen Gasthof mit Biergarten, den wir in einer halben Stunde zu Fuß erreichen.
– Ich bin dabei.
– Gut, dann hol mich doch gegen zwölf in der
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