Liebesnaehe
bestellt und mir viel Zeit genommen, um zur Ruhe zu kommen. Und – Du glaubst es nicht: Nach einer Weile hieß es in meinem Bekanntenkreis, dass ich einen Geliebten habe, den ich vor aller Welt geheim hielte. Natürlich habe ich das bestritten, aber sie haben mir kein Wort geglaubt, ja sie machten sich sogar ein Vergnügen daraus, Namen für ihn zu erfinden und mich damit aufzuziehen. Manche von ihnen behaupteten sogar, sie hätten mich zusammen mit diesem Geliebten gesehen, »er ist groß, schlank und schwarzhaarig, und er trägt eine getönte Brille mit runden Gläsern« – solche Beschreibungen musste ich mir anhören, und je mehr ich dagegen protestierte, umso dramatischer malten sie sich die Szenen unserer angeblich geheim gehaltenen Liebe aus.
– Und? Was hast Du gemacht? Wie hast Du Dich dem entzogen?
– Ich konnte nichts dagegen machen, diese Gerüchte verfolgten mich ununterbrochen, es war richtiggehend anstrengend, damit zu leben. Dann aber änderte sich alles auf einen Schlag, und es änderte sich dadurch, dass Du mir ein bestimmtes Buch geschenkt hast.
– Ich habe Dir viele Bücher geschenkt, welches meinst Du?
– Errätst Du es? Hast Du irgendeine Vermutung?
– Nicht die geringste.
Sie sitzen einander einen Moment wie erstarrt gegenüber, Jule bemerkt genau, wie sehr Katharina ins Grübeln geraten ist, schließlich schaut sie hinüber zur Ecke mit ihren Lieblingsbüchern, als gehe sie die Titel noch einmal in Gedanken durch.
– Es ist eines der asiatischen Bücher, stimmt’s? fragt sie.
– Ja, antwortet Jule, es ist das »Kopfkissenbuch«.
Sie wundert sich, dass Katharina nicht sofort reagiert. Stattdessen sitzt sie weiter regungslos ihr gegenüber und starrt auf den Boden. Was ist denn mit ihr? Worüber denkt sie jetzt nach?
– Was ist? fragt Jule, bist Du nicht überrascht?
– Nein, antwortet Katharina, ich bin überhaupt nicht überrascht, aber frag mich jetzt bitte nicht, warum. Erzähl mir lieber von Deiner Lektüre des »Kopfkissenbuches« .
Jule hält weiter das Tagebuch des japanischen Dichters über die letzten Tage seines Vaters in den Händen, sie
schaut auf den Umschlag und wendet das Buch hin und her, als müsste sie es immer wieder von beiden Seiten betrachten. Dann aber reckt sie sich wieder auf und sagt:
– Du kennst das »Kopfkissenbuch« ja auch sehr genau, Du hast es viele Male gelesen, das hast Du mir jedenfalls damals, als Du es mir geschenkt hast, gesagt.
– Ja, das stimmt, antwortet Katharina, ich habe immer wieder in diesem Buch gelesen, Jahre hindurch, immer wieder.
– Dann wirst Du auch sofort verstehen, was mich an diesem Buch so fasziniert hat. Es besteht ja aus kurzen Aufzeichnungen oder Meditationen: über die Jahreszeiten, über die Monate, über das Leben im Kaiserpalast, über Frühlingsfeste, über Enttäuschungen, über Ernüchterndes. Diese Aufzeichnungen sind sehr konkret und präzise und offenbaren etwas von der starken Sinnlichkeit der schönen Hofdame, die sie geschrieben hat. Als ich ihre Texte las, stellte ich sie mir manchmal vor, wie sie am frühen Morgen für kurze Zeit in ihrem Zimmer saß, um das alles noch vor ihren täglichen Verpflichtungen zu notieren. Oder wie sie in tiefer Nacht erneut ihre kleine Stube aufsuchte, um etwas niederzuschreiben, das ihr tagsüber durch den Kopf gegangen war. Sie zog sich also für das Schreiben zurück, sie wollte allein sein, und sie war dann wohl auch mit ihren Gedanken und Gefühlen immer stärker allein. Während meiner Lektüre spürte ich dann, dass sich hinter diesem Alleinsein noch etwas anderes verbarg. Die schöne Schreiberin suchte nämlich nicht nur die Ruhe des Alleinseins, sondern sie sehnte sich auch nach etwas, ja, ich spürte, dass sie sich nach einem Geliebten sehnte, ja, genau danach sehnte sie sich,
all ihr Denken und Empfinden kreiste letztlich um eine ferne, noch entrückte Gestalt, als wollte sie diese Gestalt durch ihr Schreiben herbeilocken. Nirgends sprach sie direkt von ihrer Sehnsucht, und nirgends malte sie sich detailliert aus, wie ein Zusammensein mit einem solchen Geliebten aussehen könnte, nein, so weit ging sie nicht. Sie ist scheu und zurückhaltend, und sie ist so vorsichtig und empfindlich, dass ihr ein direktes Beschreiben oder Ausmalen eines intimen Zusammenseins mit einem anderen Menschen viel zu plump vorkommen würde. Nichts ausmalen, nichts festlegen, die Phantasie nicht beengen! Stattdessen wartet sie, sie wartet am frühen Morgen und in den
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