Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Liebesnaehe

Liebesnaehe

Titel: Liebesnaehe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
Vom Netzwerk:
hindurch zu seinem eigentlichen Zuhause zu fahren.

    Schluss, aus, aufhören! Nun ist es wieder passiert, nun zieht es ihn in Gedanken wieder zurück in die Vergangenheit! Dabei hatte er es seit seiner Ankunft doch so gut geschafft, an all diese Bilder nicht mehr zu denken!

    Er steht auf, ihm schwindelt ein wenig, aber er achtet nicht weiter darauf, sondern geht hinüber, zu der Ablage neben dem Brunnen. Er greift nach einem kleinen Teller, er legt einige der türkischen Süßigkeiten in Kreisform darauf und stellt in die Mitte eines der kleinen türkischen Teegläser. Dann füllt er das Glas mit Tee, gibt ein wenig Zucker hinzu und macht sich auf den Weg zurück, hinauf in die oberen Stockwerke.

18

    GUT GELAUNT betritt sie die Buchhandlung, sie begrüßt und umarmt Katharina, die aber noch mit einem Kunden beschäftigt ist. Deshalb nimmt sie sich Zeit und geht langsam an den Regalreihen vorbei, bis sie vor einem Eckregal stehen bleibt, in dem Katharina einige ihrer Lieblingsbücher untergebracht hat. Die kleine Kollektion hat sich bei jedem ihrer Besuche wieder verändert, meist sind es nur vierzig oder fünfzig Titel und damit genau jener Kreis von Büchern, die Katharina gerade besonders mag.

    Sie schaut sich nicht alle an, sondern sucht nach den asiatischen, sie findet das »Kopfkissenbuch« und »Auf schmalen Pfaden durchs Hinterland«, dann aber stößt sie auf einen dünnen Band, den sie nicht mehr aus der Hand legt. Es ist das Tagebuch eines japanischen Dichters aus dem achtzehnten Jahrhundert, in dem er das wochenlange Sterben seines Vaters beschreibt.

    Von langen Reisen in der Fremde kommt der Sohn zurück in sein Elternhaus, wo er auf seine Stiefmutter und den Stiefbruder trifft, die ihm das Leben schwer machen. Beide kümmern sich nicht um den Vater, so dass es zur alleinigen Aufgabe des Sohnes wird, ihm das Sterben zu erleichtern. Und genau das tut er dann auch, er bleibt ununterbrochen in der Nähe des kranken Vaters, er pflegt ihn, und er begleitet ihn bis zum Tod.

    Sie setzt sich, sie kann nicht aufhören zu lesen, bis Katharina ihren Kunden verabschiedet hat und zu ihr kommt.
    – Wie geht es Dir, Jule? Hast Du gut geschlafen?
    – Ja, ich habe sehr gut geschlafen, und ich bin schon seit einigen Stunden auf, ich habe nämlich bereits gearbeitet.
    – Gearbeitet? Geht es um Dein neues Projekt?
    – Ja, darum geht es, es geht um ein großes Projekt für meine nächste Ausstellung, und es geht um ein Projekt, zu dem Du mich inspiriert hast.
    – Ich?! Ich habe Dich inspiriert? Davon musst Du erzählen, na los, erzähl mir davon!

    Katharina setzt sich neben sie und schaut sie neugierig an. Jule aber hat zunächst Mühe, sich auf das Gespräch zu konzentrieren, sie ist noch zu sehr mit ihrer Lektüre beschäftigt. »Die letzten Tage meines Vaters« – sie liest noch einmal den Titel des altjapanischen Buches, das sie nicht aus den Händen legt. Sie streift mit den Fingern der rechten Hand über den Umschlag, dann aber reckt sie sich auf und beginnt zu erzählen.
    – Ach, Du weißt doch, dass ich in den letzten Jahren viel unterwegs war. Ich hatte eine Ausstellung nach der andern, ich war in Paris, Berlin und Tokio, ich war in London und Amsterdam, vor lauter Arbeit bin ich kaum zur Ruhe gekommen. Und natürlich hatte ich in all den Jahren viel mit Leuten zu tun, mit den Galeristen, den Ausstellungsmachern, den Museumsleuten, mit Leuten, die meine Sachen kaufen wollten, mit Freunden, mit Halbfreunden, ununterbrochen war ich mit Menschen zusammen. In den Nächten aber war ich oft so kaputt, dass ich nicht einschlafen konnte. Ich bin wach geblieben und
habe zu lesen versucht, ich habe Musik gehört und ein Glas Wein getrunken, oft habe ich die halbe Nacht damit verbracht, mich abzulenken, um endlich in den Schlaf zu finden. Morgens war ich dann übermüdet und fühlte mich schlecht, die hellwach verbrachten Nächte taten mir nicht gut, und doch fühlte ich mich auch hingezogen zu diesen sehr stillen Stunden. Nach einer Weile bekam ich heraus, dass ich im Grunde Sehnsucht nach dieser Stille hatte, ja, im Grunde wollte ich in Ruhe gelassen werden und brauchte mehr Zeit für mich selbst. Als mir das klar geworden war, habe ich an vielen Abenden unter einem Vorwand das Weite gesucht und mich frühzeitig von meinen Gesprächspartnern und Freunden getrennt. Ich bin noch eine Stunde allein durch die nächtlichen Straßen und dann auf mein Hotelzimmer gegangen, ich habe mir eine Kleinigkeit zu essen

Weitere Kostenlose Bücher